Terra Nova

TERRA NOVA Editorial vom 2.9.21

„Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, 
wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – 
und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir 
ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen.”
Etty Hillesum, in Auschwitz ermordete Jüdin, 1943

Lieber Terranaut, liebe Terranautin,

In dieser Jahreszeit, dem Spätsommer, der Erntezeit, schaue ich immer zurück aufs Jahr und auf die Ernte der Saaten, die wir im Laufe des Jahres in den Boden und die Welt gebracht haben. Was ist daraus geworden? Welche sind aufgegangen, welche nicht? Welche will ich weiterpflegen, auf welche will ich verzichten? 
In diesem Jahr schaue ich noch weiter zurück. Ich bin vor mittlerweile 38 Jahren zum Projekt Meiga gekommen, in die damalige Bauhütte. Es war eine Zeit großer globaler Bedrohung durch Atomkraft und kalten Krieg – ähnlich wie heute, wo die US-Armee nach ihrem Rückzug aus Afghanistan den Taliban ein hochmodernes Waffenarsenal hinterlässt und diese damit zu einer modernen Armee ausrüstet. Was das für die Menschen im Land an Not und Angst bedeutet, an Bedrohung für die Nachbarländer, an Destabilisierung einer ganzen Region! 
Damals jagte mir die atomare Bedrohung so eine Angst ein, dass die großen Demonstrationen der Friedensbewegung keine ausreichende Antwort boten. Ich wusste intuitiv, dass es eine viel tiefere Antwort braucht, dass es nicht reicht, gegen etwas zu demonstrieren, sondern dass wir konsequent mit unserer Lebensweise aufräumen und eine ganz andere Kultur aufbauen müssen. Die Wurzel des Krieges liegt in uns und unserem nahen Umfeld, in den Familien, in den Liebesbeziehungen, in der Art, wie wir das Leben in uns und um uns ständig unterdrücken und kontrollieren, um in der Gesellschaft zu funktionieren und unser kollektives Trauma nicht mehr zu spüren.
Das wusste ich nicht bewusst, äußerlich war ich einfach eine unglaublich wütende junge Frau. In dieser Situation lernte ich eine Gemeinschaft im Südschwarzwald kennen, die eine neue Kultur aufbauen wollte. Sie forderten sich heraus, wahrhaftig zu werden und ihre untergründigen Emotionen – Aggression, Begehren, Wut, Konkurrenz etc. – nicht zu verstecken, auch nicht blind auszuleben, sondern zu transformieren in Wahrheit und Liebe. Auf diesem Weg scheuten sie sich nicht, gesellschaftliche Tabus in Frage zu stellen und herauszufordern, wenn sie keinen Sinn mehr machten. Sie wurden für diese Kern-Arbeit jahrelang angegriffen und ausgegrenzt. Für mich aber war klar: Das ist die Haltung, auf die ich in dieser Zeit der Bedrohung vertrauen kann und will. Ich bin bis heute glücklich über diese Entscheidung. 
Die Gruppe war die Bauhütte, der Vorläufer von Tamera. Es ist vor allem der Unerschrockenheit und Weitsicht der Gründer, vor allem von Dieter Duhm und immer mehr auch Sabine Lichtenfels zu verdanken, wie konsequent, tief und mutig diese Innenarbeit über so eine lange Zeit geschehen konnte.
Der Studientext dieser Woche ist ein Text von damals. Ich bitte dich, die ungeschönte Sprache von damals in Kauf zu nehmen und den Kern des Textes aufzunehmen: Eine gewaltfreie Kultur geht aus einer neuen sozialen Ordnung hervor, in der wir als ganze Menschen, mit all unseren Lebensenergien zu Hause sein können. 
Damals dachte die Gründer-Gruppe, es würde etwa drei Jahre dauern, die notwendige Innenarbeit dafür zu machen. Heute wisssen wir, dass diese „Arbeit am Charakter“, durch die „auf konstruktive Weise die alten Programme gelöscht und durch neue Erfahrungen ersetzt werden können“, nie aufhört. Diese innere Revolution ist die Grundlage dafür, eine neue Kultur aufzubauen, die weiter geht als bis zum nächsten oder übernächsten zwischenmenschlichen Konflikt.
Diesem Ziel bin ich bis heute treu – oder versuche es jedenfalls nach besten Kräften, egal wo ich bin. Und ich möchte im Rahmen von Terra Nova mit allen zusammenarbeiten, die daran mitwirken wollen – auf ihre Weise, an ihren Orten – auf der Grundlage von Vertrauen und echter Anteilnahme. 

Herzlich
Christa Leila

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DieGründergruppe des Projekt Meiga 1983

Aufbau einer Gemeinschaft zweiter Ordnung

von Dieter Duhm, aus einem Grundlagentext der „Bauhütte“ – dem Vorläuferprojekt von Tamera, 1982

Ungelöste Kernprobleme der apokalyptischen Gesellschaft liegen in den Bereichen von Kontakt, Sexualität, Liebe, Familie und Kindern. Zu ihrer Lösung bedarf es keiner therapeutischen Maßnahmen, sondern einer neuen sozialen Ordnung. Ein entscheidendes Element in einer neuen sozialen Entwicklung ist die »Gemeinschaft zweiter Ordnung«.
Die Familie (Gemeinschaft erster Ordnung) war in organischen Gesellschaften eingebettet in die natürliche Gemeinschaft der nächsten Stufe (Stamm, Dorf). Diese Stufe fehlt in der modernen Gesellschaft; sie muss auf experimentellem, unserem Bewusstsein entsprechenden Weg (ohne Naturromantik und mystischen Kollektivismus) neu gebildet werden. Die Gemeinschaft zweiter Ordnung ist eine soziale Einheit von hoher psychischer und wirtschaftlicher Autarkie.
Die neue Gesellschaft bietet dem Einzelnen so viele Möglichkeiten zu Kontakt, Sexualität und schöpferischer Verwirklichung, dass niemand mehr zur Erfüllung seiner Lebenswünsche auf die Beziehung zu einem einzigen Menschen angewiesen ist. Nur so kann ein Milieu entstehen, wo Liebe und Partnerschaft nicht mehr mit Verlustangst und Lüge verbunden sind und Sexualität nicht mehr mit Abhängigkeit.
Die neue Gemeinschaft entwickelt ein System der Kinderbetreuung, das die Mütter vom Dauerstress entbindet und sie dadurch zu einer echten (und nicht nur pflichtgemäßen) Zuwendung zum Kind befähigt. Die emotionelle Verbindung von Liebe, Verlustangst und Hass, die schon im frühen Kindesalter entsteht und zu den späteren Dauerstrukturen von Misstrauen und Eifersucht führt, kann auf diese Weise verhindert werden.
Die positiven Inhalte von Ehe und Familie sind in der neuen Gemeinschaft aufbewahrt, ohne mit den starren Formen der emotionellen und sexuellen Abgrenzung verbunden zu sein. 
Lebendige Partnerschaften, die nicht auf Verlustangst basieren, brauchen kein sexuelles Verbot, sondern im Gegenteil die ständige Öffnung nach außen. Freie Sexualität ist der organische Ausdruck einer Gemeinschaft, deren Beziehungen nicht mehr auf Abhängigkeiten und Verboten beruhen. Voraussetzung für eine Liebe ohne Erpressung und Lüge.
Der Aufbau von Gemeinschaften zweiter Ordnung ist ein sozialhygienisches Gebot, das aus medizinischen Gründen erfüllt werden muss. Die meisten psychosomatischen Erkrankungen hängen zusammen mit den unzureichenden und unorganischen Strukturen, die unsere Gesellschaft für die Bereiche von Liebe, Sexualität und Kindererziehung geschaffen hat. An unbewältigten Liebeskonflikten sterben heute mehr Menschen als an Verkehrsunfällen.
Der Aufbau funktionierender Gemeinschaften verlangt eine fundamentale Veränderung unserer psychischen Strukturen, unserer Kommunikationsformen und Lebensgewohnheiten. Die Einzelnen müssen sich durch ständige »Arbeit am Charakter« für ein Gemeinschaftsleben ohne ängstliche Unterwürfigkeit und verlogene Anpassung erst qualifizieren. Dazu bedarf es besonderer Methoden und Spielregeln, mit denen auf konstruktive Weise die alten Programme gelöscht und durch neue Erfahrungen ersetzt werden können. Das ist der springende Punkt in der derzeit in Gang befindlichen Revolution des Menschen.
Erst wenn reale Heilungsmöglichkeiten für die innere Ökologie der menschlichen Beziehungen geschaffen worden sind, können realistische Lösungen für die anstehenden politischen, sozialen, medizinischen und ökologischen Probleme unserer Zeit gefunden werden.

Die Bauhütte


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