Terra Nova

Heilung ist die nicht Abwesenheit von Schmerz und Leiden

von Claude AnShin Thomas

Ich wollte, dass der Schmerz wegging, dass er verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen, als hätte er nie existiert. Ich glaubte, dass Heilung synonym sei mit der Abwsenheit von Schmerz und Leiden. Doch durch das Leben in Achtsamkeit lerne ich, dass Heilung nicht die Abwesenheit von Schmerz und Leiden ist – Heilung bedeutet, mit dem Schmerz und dem Leiden leben zu lernen.
Wenn ich in Achtsamkeit lebe, bin ich eingeladen, die Natur des Leidens, meines Leidens zu berühren und zu umarmen, ohne es zu bewerten. Meine Empfindungen sind weder richtig noch falsch, weder gut noch schlecht; sie sind einfach. Keine Wertungen vorzunehmen, brachte viel größere Freiheit in mein Leben. Ich bin von dem gesellschaftlich-kulturellen Umfeld, in dem ich lebe, konditioniert, mein Leiden zu bewerten und zu glauben, dass es falsch sei, mit bestimmten Empfindungen in Berührung zu kommen.
Mein Urteil, ein Produkt meines anerzogenen Verhaltens, hielt mich in Unachtsamkeit gefangen und gleichzeitig in der Illusion, dass ich nicht litt. Wenn ich in Achtsamkeit lebe, kann ich meiner Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen gewahr sein, ohne sie zu bewerten.
Wenn ich in Achtsamkeit lebe, kann ich tief in meine Natur blicken, die Ursachen und Bedingungen meines Lebens ergründen, die mein Leiden nähren, und mir dessen Natur zutiefst bewusst werden. Ich kann meine Angst, meine Trauer, meine Wut, meine Verwirrung spüren. Ich kann sie spüren, ich kann sie berühren, ich kann sie betrachten, ich kann sie an der Hand nehmen.
Wenn ich in Achtsamkeit lebe, habe ich echte Wahlmöglichkeiten. Ich besitze Freiheiten. Ich werde in der Lage sein, die leise, aber entschlossene Stimme zu hören, die mich lenkt und leitet, die leise Stimme, die mir sagt: „Claude AnShin, das ist keine gute Idee. Vielelicht solltest du das lieber lassen.“ Oder vielleicht sagt sie: „Claude AnShin, das ist eine tolle Idee! Ja, mach das!“
Je mehr ich in Achtsamkeit lebe, einatme und ausatme, desto klarer zeigt mir das Leben den einzuschlagenden Weg. Doch ich muss beständig aufmerksam sein, bewusst, wachsam. Ich muss stets sehr eingehend die Natur meines Tuns betrachten.
Es ist nicht möglich, in Achtsamkeit zu leben und Leben zu zerstören. Als ich im Krieg getötet habe, lebte ich nicht in Achtsamkeit. Unachtsamkeit beherrschte mich. Ich redete mir ein, dass die anderen, der Feind, die Ursache meines Leidens seien. Doch der Feind ist nicht der Quell meines Leidens. Mein Leiden gehört mir.
Nachdem ich aus Vietnam zurückgekehrt war, lebte ich eine Zeitlang auf der Straße. Ich war obdachlos und in Unachtsamkeit, Achtlosigkeit verfangen. Wenn Sie an mir vorübergegangen wären, hätten Sie mir vielleicht einen Fußtritt versetzt; Sie hätten mich nicht ansehen mögen. Die Menschen mochten mich nicht ansehen, weil sie in mir einen Teil ihrer selbst gesehen hätten, den sie lieber leugnen wollten. (…)
Ich hätte lieber nicht getötet. Aber ich habe es getan. Und das zurückzuweisen heißt, mich selbst und die Wirklichkeit meiner Handlungen zurückzuweisen. Durch die Achtsamkeitspraxis, das Leben im gegenwärtigen Augenblick, bin ich in der Lage, mein gesamtes Selbst in mein Leben einzulassen, all die verschiedenen Teile meines Selbst zu einem ganzen zusammenzufügen. Ja, ich bin der kleine Junge, der Baseball spielt, und ich bin der tötende Soldat. Ja, ich bin der Heroinabhängige, und ich bin der Vater eines wunderbaren Jungen. Ich bin all dies, und ich darf mich nicht von einigen Aspekten abwenden. Indem ich all diese Aspekte meines Selbst in meinem gegenwärtigen Augenblick willkommen heiße, bin ich in der Lage, mein Leben vollständiger zu gestalten.
Wir alle sind wie Steine. Wenn uns jemand aufhebt und in einen See wirft, werden die Kreise den See füllen. Wenn wir in Unachtsamkeit leben, in Achtlosigkeit, wird unser Leiden den See füllen. Doch wenn wir in Achtsamkeit leben, wird unsere Heilung den See füllen.

Aus dem Buch: Claude AnShin Thomas, Krieg beenden, Frieden leben. Theseus Verlag

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