Terra Nova

Die FALLE

Aus dem Buch „Der Christusmord“ von Wilhelm Reich

 
Entpanzerung durch Offenbarung – Forumsszene aus Tamera

Der Ausgang ist für diejenigen, die in der Falle sitzen, deutlich sichtbar. Aber niemand scheint ihn zu sehen.
Jeder weiß, wo der Ausgang ist. Aber niemand scheint auch nur einen Schritt auf ihn hin zu tun.
Mehr noch: Wer immer sich dem Ausgang nähert oder darauf zeigt, der wird für verrückt oder kriminell erklärt oder zum Sünder abgestempelt, der in der Hölle schmoren müsste. Es stellt sich heraus, dass das Problem nicht die Falle ist oder die Schwierigkeit, den Ausgang daraus zu finden.
Das Problem liegt IN DEN GEFANGENEN SELBST. (…)
Das lebendige Leben offenbart sein Wirken überall um uns herum, in unserem Innern, in unseren Sinnen, vor unserer Nase, es zeigt sich deutlich in jedem Tier, in jedem Baum, in jeder Blume. Wir spüren es in unserem Körper und in unserem Blut. Und doch bleibt es für die in der Falle Gefangenen das größte und unfassbarste Rätsel überhaupt. Aber das Leben ist nicht das Rätsel. Das Rätsel ist vielmehr, wie es über so lange Zeit ungelöst bleiben konnte. Die große Frage des Lebens und seines Ursprungs ist ein Problem der Charakterstruktur des Menschen, der es geschafft hat, sich so lange um die Lösung herumzudrücken. Das eigentliche Problem der Menschheit liegt darin, dass sie stets DEM WESENTLICHEN AUSWEICHT. Dieses Ausweichen, die ausweichende Grundhaltung, gehört zur Tiefenstruktur des Menschen. Auf diese Struktur ist es zurückzuführen, wenn der Mensch vor dem Ausgang aus der Falle davonläuft. Er wehrt sich mit entschlossener Härte gegen jeden Versuch, den Ausgang zu finden. Das ist das große Rätsel. (…)

Außerhalb der Falle, in ihrer unmittelbarsten Nähe, ist das lebendige Leben überall um einen herum, in allem, was das Auge sehen, das Ohr hören, die Nase riechen kann. Für die Opfer im Innern der Falle bedeutet dies ewige Qual, vergleichbar den Heimsuchungen des Tantalus. Man sieht, man fühlt, man riecht es und verzehrt sich in ewigem Verlangen danach, aber man wird niemals, niemals aus der Falle hinausgelangen. Es ist schlicht unmöglich geworden, der Falle zu entrinnen. Dies ist nur im Traum, in Gedichten, in großen Musikwerken und Gemälden möglich, liegt aber nicht mehr innerhalb unseres realen Bewegungsspielraums. Die Schlüssel zum Ausgang sind in unserem eigenen Charakterpanzer, in der mechanischen Erstarrung unseres Körpers und unserer Seele, einzementiert.

Wer zu lange im dunklen Keller gelebt hat, wird den Sonnenschein hassen. Und vielleicht können seine Augen gar kein Licht mehr ertragen. Daher rührt dann der Hass auf den Sonnenschein. Damit sich ihre Nachkommen an das Leben in der Falle gewöhnen, entwickeln die Lebewesen, die in ihr gefangen sind, ausgeklügelte Methoden, um das Leben in einem strikt eingeschränkten Rahmen zu halten. In der Falle ist nicht genug Raum für weit ausholende Gedanken oder Handlungen. Jede Bewegung ist nach allen Seiten hin begrenzt. Das hatte schließlich zur Folge, dass die Organe des lebendigen Lebens selbst verkümmert sind. Den Geschöpfen im Innern der Falle ist jegliches Gefühl für ein erfülltes Leben verlorengegangen.
Und dennoch ist ihnen die tiefe Sehnsucht nach dem Glück geblieben, die Erinnerung an ein lange vergangenes glückliches Leben, bevor sie in die Falle gerieten. Aber im wirklichen Leben können Sehnsucht und Erinnerungen nicht ausgelebt werden. Und aus dieser Spannung hat sich der Hass auf das Leben entwickelt.
Fassen wir alles, worin sich dieser Hass auf das Lebendige äußert, unter dem Begriff »CHRISTUSMORD« zusammen. Jesus Christus fiel diesem Hass auf das Lebendige, der auch unter seinen Zeitgenossen grassierte, zum Opfer. (…)
Der Christusmord gibt uns ein Rätsel auf, das die Menschheit zumindest seit Beginn der Geschichtsschreibung beschäftigt. Er betrifft nicht Christus allein, sondern er ist DAS Problem der gepanzerten Charakterstruktur des Menschen. Christus fiel dieser Charakterstruktur zum Opfer, weil er ein Verhalten an den Tag legte, das auf die gepanzerte Charakterstruktur wirkte wie die Farbe Rot auf das Gemüt eines wilden Stiers. Wir können also sagen, dass Christus das Lebensprinzip als solches vertritt. Es spielt keine Rolle, ob sich der Mord an Christus 5000 v. Chr. oder 2000 n. Chr. abspielte. Christus wäre sicherlich zu jeder Zeit und in jeder Kultur ermordet worden, sofern die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Zusammenprall zwischen dem Lebensprinzip und der emotionalen Pest in ähnlicher Weise bestanden hätten wie im alten Palästina jener Tage.

Es ist eines der wesentlichen Merkmale des Mordes am Lebendigen durch das gepanzerte Menschentier, dass er in vielerlei Tarnungen daherkommt. Der gesellschaftliche Überbau aus Ökonomie, Kriegsführung, irrationalen politischen Bewegungen und gesellschaftlichen Institutionen, die der Unterdrückung des Lebens dienen, überschwemmt die fundamentale Tragödie, unter der das Menschentier leidet, mit einer Flut von Rationalisierungen, Vertuschungsversuchen und Manövern, um vom eigentlichen Problem abzulenken; und er kann sich dabei auch noch auf eine vollkommen logische und in sich stimmige Rationalität verlassen, die nur gültig ist innerhalb des Rahmens von Gesetz versus Verbrechen, Staat versus Volk, Moral versus Sexualität, Zivilisation versus Natur, Polizei versus Verbrecher — und immer so weiter in der langen Geschichte des menschlichen Elends.

Der Feind ist überall. Keine geographischen oder rassischen Grenzen trennen den Freund vom Feind. Wie können wir uns unter diesen Umständen gegenseitig vertrauen? Wie kann jemals »guter Wille unter den Menschen« und »Friede auf Erden« entstehen, wenn es so ist?
Die Antwort lautet: Lernt zu erkennen, was das Leben ist und wie es funktioniert. Lernt endlich, für das Leben so zu kämpfen, wie ihr es bis jetzt nur für Kaiser, Fürsten und Führer, für Ideen, für die Ehre, für Reichtümer und für vergängliche Vater- und Mutterländer getan habt. Fangt endlich an, für das Leben zu kämpfen! Und: Lernt zu unterscheiden zwischen einem offenen, ehrlichen Gesicht und dem eines Kriechers und notorischen Lügners.


Wilhelm Reich, 1897 – 1957


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