Terra Nova

Die verbundenen Wasser aus Bali

Ein Beispiel für eine Gesellschaft und Kosmologie, die über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende in der Lage war, ein bemerkenswertes Gleichgewicht sowohl innerhalb des menschlichen Zusammenlebens als auch zwischen Menschen und der übrigen Natur zu schaffen, ist die balinesische Kultur. Offiziell wird die Mehrzahl der Balinesen dem „Hinduismus“ zugerechnet, aber dieses Wort – eine Schöpfung der britischen Kolonialherren – ist ein ebenso vager Containerbegriff wie das Wort „Religion“ und erfasst in keiner Weise die spezifischen Vorstellungen und Praktiken der balinesischen Kosmologie. Die Balinesen selbst sprechen in Bezug auf ihre Weltsicht und Praxis von Agama Tirtha, was so viel bedeutet wie „Tradition des heiligen Wassers“.

Um uns einem Verständnis dieser Kosmologie zu nähern, müssen wir zunächst begreifen, dass die Welt für Balinesen zwei Aspekte hat, die sekala und niskala genannt werden. Sekala bezeichnet alles, was man sehen, anfassen, riechen, hören und schmecken kann. Niskala hingegen ist der Bereich der unsichtbaren Kräfte. Nicht nur in Menschen wohnen diese unsichtbaren Kräfte, also nicht nur in unserer Innenwelt, sondern im Prinzip überall im Kosmos. Aus diesem Grund haben zum Beispiel bestimmte Orte und Himmelsrichtungen charakteristische Qualitäten und sich nicht einfach neutrale Raumkoordinaten. Im Gegensatz zum mechanistischen Denken, das seit den Zeiten von René Descartes der Natur Stück für Stück die Innenwelt abgesprochen hat und sie höchstens noch für den menschlichen Geist reserviert, hast in der balinesischen Kosmologie potenziell alles eine von außen nicht einsehbare Innenseite, mit der man nur durch besondere, rituelle, musikalische und theatrale Praktiken in Verbindung treten kann.

Fast alle Aspekte des traditionellen balinesischen Lebens sind nach dem Prinzip des tri hita karana organisiert, was etwa so viel heißt wie „die drei Ursachen des Wohlergehens“. Dieses Prinzip gibt Antworten auf so unterschiedliche Fragen wie etwa, wo eine Toilette im Haus gebaut wird, wie das landwirtschaftliche Bewässerungssystem organisiert ist, wie Menschen in einem Dorf zusammenleben und wie das Universum als Ganzes strukturiert ist. (…)

Ein anschauliches Beispiel für das Prinzip des tri Kita karana ist das Bewässerungssystem, das die Reisbauern Balis seit mehr als 1000 Jahren nutzen und das eine extrem effiziente, sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Wasserverteilung garantiert. Im Jahr 2012 wurde es von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Es hat die ertragreichste Landwirtschaft des indonesischen Archipels hervorgebracht und der zerklüfteten, sehr dicht bevölkerten Insel eine bemerkenswerte Ernährungssicherheit verschafft, welche die materielle Grundlage der reichen kulturellen Aktivitäten der Bewohner ist. In diesem System sind die drei Ebenen, auf denen die balinesische Kosmologie beruht, eng miteinander verflochten: die Beziehungen der Menschen zur Sphäre der kosmischen Kräfte (parhyangan), der zwischenmenschliche Bereich (pawongan) und die Beziehungen zu den nichtmenschlichen Aspekten der Natur (palemahan). Nur wenn all diese Ebenen, in sich und untereinander, in einer dynamischen Balance stehen, ist das Wohlergehen aller Geschöpfe einschließlich des Menschen gesichert.

Innerhalb des landwirtschaftlich-ökologischen Systems sind die wichtigsten Institutionen zur Schaffung dieses Gleichgewichts die so genannten Subaks und die ihnen zugeordneten Wassertempel. Alle Reisbäuerinnen und Reisbauern, deren Bewässerung von einem bestimmten Teil eines Flusssystems abhängt, sind in einer Bewässerungsgemeinschaft zusammengeschlossen, einem Subak. (Das Wort bedeutet so viel wie „verbundenes Wasser“.) Die Subaks sind basisdemokratisch organisiert, sie wählen jeweils Vorsitzende auf Zeit. Hierarchien, die auf Kastenzugehörigkeit oder Eigentum beruhen, sind in den Subaks weitgehend außer Kraft gesetzt. Jedes Verhalten, das die Gleichberechtigung der Mitglieder zu untergraben droht, wird hier streng geahndet. Die Subaks orientieren sich außerdem nicht an Dorfgrenzen oder politischen Strukturen, sondern an den ökologischen Einheiten der Wasserläufe.

Alle Reisfelder eines Subak sind durch ein ausgeklügeltes System von kleinen Kanälen und Schleusen miteinander verbunden. Die Reispflanzung erfordert die Bewässerung in einem ganz bestimmten Rhythmus, um den Wachstumsphasen der Pflanzen Rechnung zu tragen und die Ausbreitung von Schädlingen zu verhindern. Außerdem gilt es, eine gerechte Verteilung des Wassers zu sichern, sodass sowohl die weiter oben als auch die stromabwärts gelegenen Felder ausreichend versorgt werden. Je nach Wetterverhältnissen und Schwankungen der Schädlingspopulationen müssen die Zeitpunkte für die Öffnung und Schließung der Schleusen jedes Jahr neu bestimmt werden.

 

Diese Aufgabe erfüllen die Wassertempel, die sich entweder an den Quellen von Wasserläufen befinden oder an bedeutenden Abzweigungen. In diesen Tempeln finden regelmäßig Versammlungen statt, in denen die Mitglieder gemeinsam entscheiden, wie sie pflanzen und bewässern wollen. Darüber hinaus finden ausgiebige Zeremonien, Tanzaufführungen und Feste statt, die der Wassergottheit Devi Danu gewidmet sind, oft fünfzig oder mehr pro Jahr. Balinesen widmen diesen Institutionen also einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit. 

Die Tempel sind in einer bestimmten Rangordnung gegliedert, je nachdem, ob sie weiter oben an einem zentralen Wasserlauf oder weiter unten an kleinen Nebensystemen angesiedelt sind. Um die Bewässerungszeiten von mehreren, oft Hunderten von Subaks zu synchronisieren, braucht es die Koordination von übergeordneten Tempeln. Der höchste dieser Tempel ist am See des Batur-Vulkans gelegen, wo ein großer Teil der Wasserläufe ihren Ursprung hat. Dort findet einmal im balinesischen Jahr, das 210 Tage umfasst, ein großes Fest statt, bei dem heiliges Wasser aus dem Vulkansee geschöpft wird und an die Vertreter der untergeordneten Subaks verteilt wird, bis es jedes einzelne Feld erreicht. Mit dem Rhythmus der Feste wird zugleich der Rhythmus von Flutungen und Trockenlegungen der Felder koordiniert. Auf diese Weise wird die soziale Kooperation  des Wasserteilens mit dem geistigen Gleichgewicht im kosmologischen Ganzen synchronisiert.

Im Subak-System sind Ökologie, Kosmologie und soziale Organisation in einem selbstorganisierten Ganzen verbunden. Die terrassierte Landschaft Balis mitsamt den Wasserläufen und Waldstücken, die Tempelrituale und die kooperativen Praktiken der Menschen durchdringen sich und formen sich gegenseitig. Weder gibt es hier eine vom Menschen getrennte Natur noch eine abstrakte „Religion“, die man ebenso in der Wüste Gobi oder in einem Großbüro von Chicago praktizieren könnte. Der geistige Kosmos, die Landschaft und das soziale Gefüge sind untrennbar. Und die Wahrheit der diesem System zugrunde liegenden Kosmologie besteht darin, dass sie sich über sehr lange Zeiträume an einer spezifischen Welt bewährt hat.

Die Subaks sind außerdem ein gutes Beispiel für komplexe selbstorganisierte Systeme, die keiner zentralen Planung bedürfen. Sowenig die Evolution einen außerhalb stehenden Schöpfergott vom Typ Chnum brauchte, sowenig brauchten die Subaks zu ihrer Entstehung staatliche Planung. Die schwindelerregende Komplexität der Selbstorganisation innerhalb einer Zelle und das integrierte ökologisch-kosmologische System der balinesischen Reisterrassen sind gleichermaßen Teil einer umfassenden Kreativität des Universums, das seine eigene Schöpferin ist.

In den 1970er Jahren kam eine Gruppe von Ingenieuren des Schweizer Unternehmens Ciba (heute BASF) im Auftrag der indonesischen Regierung nach Bali, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass ihr System ineffizient und irrational sei, weil es zu viel Zeit mit sinnlosen Ritualen und Diskussionen vergeude und die Felder lange brachliegen ließ. Sie schlugen vor, dass die Bauern künftig so oft und so schnell wie möglich Reis pflanzen,  unabhängig vom Tempelkalender, und dabei Pestizide, Kunstdünger und Hochertragssorten verwenden, um ihre Ernte zu maximieren. Die indonesische Regierung übernahm diese Vorschläge und zwang die Bauern zu einer intensivierten Landwirtschaft mit massivem Pestizideinsatz. Das Ergebnis war ein Desaster: Große Teile der Ernte wurden von Schädlingen aufgefressen, die Fruchtbarkeit des Bodens sank, und Chaos machte sich breit. Die Regierung war schließlich gezwungen, zum Subak-System zurückzukehren. Was die Schweizer Ingenieure als „religiös“ abtaten, als irrationales Beiwerk, erwies sich letztlich als unverzichtbarer Teil eines komplexen, selbstregulierenden Systems.

Das Scheitern der so genannten Grünen Revolution in Bali und der Erfolg des Subak-Systems werfen ein interessantes Licht auf die Frage, was wir eigentlich unter „Rationalität“ verstehen. Ist es wirklich „rational“, wenn Ingenieure Tonnen von Gift auf ein komplexes System werfen, das sie weder kennen noch verstehen? Ist nicht für jeden Menschen, der auch nur rudimentäre Kenntnisse von ökologischen und kulturellen Fließgleichgewichten besitzt, ein solches Vorgehen verrückt und von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Muss es uns nicht scheinen, dass die Schweizer Ingenieure einem irrationalen religiösen Kult erlegen sind, in dessen Zentrum Wahnideen von technischer Allmacht stehen?

Und ist nicht umgekehrt das scheinbar so irrationale und umständliche System von Tempeln  und Ritualen, das die balinesische Gesellschaft und ihre Beziehungen zu den Ökosystemen reguliert, auf einer viel höheren Ebene rational, weil es in der Lage ist, komplexe Kreisläufe der Innen- und der Außenwelt zu balancieren? Müssen wir nicht nach genau dieser Art von Wissen und Rationalität Ausschau halten, wenn wir eine Chance haben wollen, der planetaren Verwüstung zu entkommen – einer Rationalität, die nicht auf Zerlegung und Herrschaft, sondern auf Integration und Kooperation beruht?

Aus dem Buch: Fabian Scheidler: Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen. PIPER

 

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