Terra Nova

Den Drachen befreien: Für eine Zukunft ohne fossile Brennstoffe

Freie Rede von Barbara Kovats aus Tamera während eines Treffens zu „Defend the Sacred“

„Eine Zukunft ohne fossile Brennstoffe“: Das ist ein sehr großer Gedanke. Ich möchte das Bewusstsein zunächst einmal darauf lenken, was das für eine kostbare Substanz ist, die da in Mutter Erde ruht und die der Mensch an so vielen Stellen extrahiert. Wir können Erdöl auch als Drachenkraft der Erde beschreiben: Sie ruht in der Erde und wenn sie erwacht, setzt sie Feuer und Energie frei. Aber der Mensch besitzt keine Systeme, die diese wilde Energie wirklich in einer Weise fließen lassen kann, dass sie allen dient. Er kanalisiert sie statt dessen in ein Machtsystem, das den Drachen gefangen und geknebelt hält. Der gefangene Drache ist das Rückgrat der westlichen Zivilisation.

Denn Erdöl hat ein ganzes System kreiert. Es verbindet die Autoindustrie, den Transport, die pharmazeutische Industrie, die Landwirtschaft, die Textilherstellung und vieles mehr.
Warum ist das so? Wenn das Öl aus der Erde kommt, kommt es in einer bestimmten Zusammensetzung, die in der Raffinerie in die verschiedenen Derivate verarbeitet wird. Das sind Benzin, Heizöl, Kerosin, Schmierfette, petrochemische Grundstoffe, Teer, Ölkoks und Flüssiggas. Der Solar-Visionär Hermann Scheer sagte: „Die Raffinerien sind das Glied in der Kette, an dem sich die industriellen Interessen strukturkonservierend verknoten.“ Jede Substanz wird für einen anderen Zweig eingesetzt: Brennstoff für Autos und Flugzeuge, Teer für Straßenbau, andere Stoffe für Düngemittel und Pestizide, Textil- und Plastikproduktion. Die Extraktion des Erdöls hat zu einem vielfältigen industriellen System geführt. Es gibt heute fast nichts, dass außerhalb des Erdöl-Systems produziert wird.

In diesem System kann man nicht nur einen Parameter verändern. Wer ein Detail verändern will, greift immer das Ganze an und steht deshalb immer einer erstaunlich einheitlichen und übermächtigen politischen Lobby gegenüber. Wenn man zum Beispiel für ökologische Landwirtschaft und gegen die Produktion von bestimmten Pestiziden eintritt und damit Erfolg hätte, dann würden vielleicht diese Pestizide nicht mehr hergestellt. Aber der Ausgangsstoff ist immer noch da, er wird aber nicht gewinnbringend eingesetzt, und deshalb läuft das ganze System nicht mehr profitabel. Wenn man einen Sektor der Erdölindustrie verändern will, riskiert man also den Widerstand aller anderen industriellen Sektoren, die nur in diesem Zusammenspiel so effizient sind. Damit kommt man nicht durch, denn beim Erdöl hat man es mit der geballten Machtkonzentration der Menschheit zu tun.

Eine Welt ohne fossile Brennstoffe ist also nur möglich, wenn wir das System vollständig ändern, d.h. wenn wir alternatives System aufbauen können, das in allen Bereichen genauso rund läuft, aber eben nicht zerstörerisch, sondern nachhaltig ist. Wir brauchen einen kompletten Systemwechsel, um den Drachen zu befreien. Solarpanele auf dem Dach oder dem Feld sind natürlich gute Schritte. Aber der Weg aus der Kultur des gefangenen Drachens wird nur gelingen, wenn wir in ein neues System investieren.

Dazu sollten wir noch zwei Dinge über das System wissen. Da es immense Summen an Geld für all ihre Aktivitäten benötigt – so wie die geplante Probebohrung nach Öl in Portugal – können sich bisher nur die ganz großen Machtmonolithen die Investition in diese Energiequelle leisten. Das sind Komplexe aus Regierungen, Großindustrie und Finanzsystem. Das Erdöl-System besitzt also eine eingebaute Struktur der Zentralisierung. In dem bestehenden System ist die Macht, die Energie zu produzieren und zu verteilen, immer in den Händen weniger. Es hat also auch die eingebaute Struktur, Abhängigkeiten zu erzeugen. Machtkonzentration bedeutet in unserer Zeit auch immer Macht über Menschen, Macht über ökologische Systeme und Macht der Zerstörung.
Eine zweite Sache zum Erdölsystem: Dieser kostbare schlafende Drache ist nur an einigen Orten der Erde zugänglich. Die Machtsysteme aus Regierungen und Konzernen sind also darauf angewiesen, diese Orte und Regionen zu kontrollieren, um Zugang zu der Energiequelle zu haben, auf der ihr System beruht. So kommt es, dass auch Krieg ein eingebauter Teil dieses Systems ist. Denn für die Machtmonolithen ist es eine Überlebensfrage, all das kontrollieren, besitzen, verteilen zu können, was zum System der Menschheit heute gehört. Denn wer Macht will, für den ist der Zugang zu der Region, an der Erdöl gefunden wird, absolut unverzichtbar, und dann ist jedes Mittel recht. Und wenn sie keinen Zugang zu diesen Regionen haben, werden sie in den Krieg führen. Krieg gehört also auch zur eingebauten Logik des Erdölsystems.

Viele Kriege auf diesem Planeten sind wegen Erdöl geführt worden. Das begann mit Indianerland im Westen und der sibirischen Tundra im Osten, ging weiter mit den arabischen Ländern und dem Nahen Osten und heute geht es um abgelegene Dschungelgebiete, die Tiefsee und die Arktis. Viele Menschen sind für den Drachen gestorben, ganze Kulturen wurden vernichtet. Viele Ökosysteme wurden zerstört, Tier- und Pflanzenarten starben für ihn aus. Es ist eine große Herausforderung, dieses System zu überwinden. Und eines kann ich ganz deutlich sagen: Niemand von uns wird dies allein schaffen.

Was heißt es, eine Alternative aufzubauen? Es reicht nicht, einzelne technische oder soziale Alternativen zu entwickeln. Wir müssen unsere Kräfte zusammenschließen und ein ähnlich kohärentes Rückgrat für die Gesellschaft aufbauen, eine Alternative für alle die Produktionsrichtungen, die bisher von Öl abgedeckt wurden – sei es Transport, Heizen, Kochen, Landwirtschaft, Pharmazie – ein System, das alle menschlichen Aktivitäten umfasst, alles, was wir als Menschen brauchen, wenn wir auf diesem Planeten leben, bauen, arbeiten.

Und da fängt die Arbeit an. Menschen zu verführen, miteinander zu kooperieren, ist eine große Aufgabe dabei. So begann die Arbeit am Solaren Testfeld. Wir wollten die Alternativen, die es zum Teil schon gab, als Module zu einem alternativen und gelebten Gesamtsystem verbinden. Die Wissensquellen für die Verbindungen der Module und für das Leben in einem anderen System sind nicht so leicht zugänglich. Wir mussten bis in die letzten Ecken des Internets forschen, um die Module und vor allem deren Verbindungsstücke zu finden, die man zu einer Alternative zusammensetzen kann.
Dazu kommt noch ein zweites: Eine humane Welt entscheidet sich nicht nur an sanfterer Technologie. Wenn Technologie ein Beitrag zu einer humaneren Welt sein soll, muss sie sich immer auch mit einer humanen Ethik verbinden, und die entsteht in einem neuen Zusammenleben der Menschen. Ob z.B. eine Biogasanlage ein Element in einem dezentralen, regenerativen System ist oder wieder zu Monokulturen und Ausbeutung von Tieren führt, ob das Wissen über dezentrale Solarenergie für ein afrikanisches Dorf oder für eine Militärbasis eingesetzt wird – das liegt nicht an der Technik, sondern an der Einbindung in einer neuen Ethik. Den ethischen Grund für den Systemwechsel bildet die Gemeinschaft. Und das ist unsere Kernforschung in Tamera, und deshalb ist das Solare Testfeld fest in Tamera eingebunden.

Es ist symptomatisch in unserer Zeit, dass kaum jemand an einem neuen System arbeitet, sondern jeder für sich. Man hat Solar-Kocher, Biogasexperten, Schefflerspiegel, all diese schönen Einzeldinge, aber sie werden fast nie zu einem System zusammengefügt. Doch genau das brauchen wir. Wir wollen nicht mit einer Summe von Einzelteilen leben – hier kochen, dort Wasser pumpen, wieder andere Orte und Systeme, um Nahrung anzubauen. Wir wollen in einem System leben, das uns mit allem versorgt, was wir brauchen.
Es ist eine sehr umfassende Arbeit, so etwas Einfaches wie eine Solarküche aufzubauen. Das Solare Testfeld ist noch eine bescheidene Annäherung an den Systemwechsel. Einige der Technologien sind bewusst einfach, denn sie sollen ja auch in Krisensituationen schnell und einfach als Hilfe eingesetzt werden können. An den Detailfragen, die dabei auftauchen, erkennt man vielfach, woran im Großen der Umstieg auf erneuerbare Energien so oft scheitert. Daran sehen wir auch in dieser Arbeit eine große Bedeutung.

Ich möchte zwei Dinge über unsere geliebte Sonne sagen. Wie schon gesagt, ist in die Erdölindustrie das Prinzip der Zentralisierung und der zentralen Macht eingebaut. Die Sonne als unser Zentralgestirn aber hat ein innewohnendes dezentrales System. Sie scheint überall. Jeder kann sie nutzen.
Die andere inhärente Qualität der Sonne ist die Fülle. Das kapitalistische System ist auf Mangel aufgebaut, ein Mangel, der immer wieder künstlich erzeugt werden muss, damit Nachfrage und Angebot funktionieren. Die Sonne aber strahlt in jedem Moment 15.000 mehr Energie auf die Erde, als die Menschheit braucht. Damit sagt sie uns deutlich: Wir sind nicht im Mangel. Wir müssen keine Energie sparen, wir müssen aber dafür sorgen, dass wir die richtige Energiequelle verwenden – dann leben wir in Fülle.

Um auf das Eingangsbild des Drachens zurückzukommen: In der Erde liegt an vielen Orten eine gewaltige Kraft. Wir kennen sie noch kaum. Wir wissen noch nicht, was für eine Bedeutung diese Kraft hat. Was wir aber mit Sicherheit sagen können: Es entspricht überhaupt nicht der Intelligenz eines Homo Sapiens, sie einfach anzuzünden und zu verbrennen und damit das Klima und alles Leben an den Rand des Abgrunds zu bringen. Wir leben in einer Zeit, wo dieser „Drache“ in vielen Menschen weltweit ein Feuer entzündet hat: An vielen Orten stehen Menschen auf, kämpfen gegen den Bau von Pipelines, gegen Ölbohrungen und sagen: Wir müssen als Menschheit lernen, das Leben wieder zu ehren und zu verteidigen. Dazu braucht es heute Zentren und Gemeinschaften, wo auch die technischen Möglichkeiten entwickelt werden, mit der Erde so zu kooperieren, dass der Drache seine Friedenskraft entfaltet.

Die Rede wurde in überarbeiteter Form auch in diesem Buch veröffentlicht: Defend the Sacred – wenn das Leben siegt, wird es keine Verlierer geben


Editorial und Text zum Hören:


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