Terra Nova

Editorial Terra Nova vom 15. September 2022

* Das Motto der diesjährigen documenta heißt „Lumbung“. Zur Wortbedeutung: In ländlichen Gemeinschaften Indonesiens wird die überschüssige Ernte in gemeinschaftlich genutzten Reisscheunen (Lumbung) gelagert und zum Wohle der Gemeinschaft nach gemeinsam definierten Kriterien verteilt. Lumbung folgt den Werten Großzügigkeit, Humor, lokale Verankerung, Unabhängigkeit, Regeneration, Transparenz und Genügsamkeit.

 

Liebes Terra Nova-Netzwerk,

Ich grüße dich von der documenta in Kassel. Zum ersten Mal habe ich die alle fünf Jahre stattfindende Kunstausstellung besucht. Außer den Antisemitismus-Vorwürfen wusste ich nicht wirklich, was mich erwartet. Nach ein paar Stunden verschwamm alles vor meinen Augen, ich war fast ärgerlich – „Was soll das hier, wer erklärt mir denn mal was?“ Doch dann fügten sich die tausend Eindrücke und Wahrnehmungen zu einem Ganzen zusammen, es war wie eine andere Wahrnehmung der Welt: Eine Kirche echter Stille. Eine Unterführung, wo ich die Geschichte meiner Gemeinschaft, meiner Heimat erzählen darf und sie aufgenommen wird. Ein altes Hallenbad mit grellbunten Bildern und Transparenten, die Korruption und Ausbeutung in Indonesien anprangern und eine wahre Erdmutter beschwören: „Land, Water, Earth: Call me Mother“. Eine still gelegte katholische Kirche, in der eine Gruppe aus Haiti die Kolonialzeit mit Figuren wie aus der Geisterbahn verarbeitet. Eine digitale Anzeige hoch an der Fassade des Fridericianums, die den rasant wachsenden Betrag anzeigt, den die australische Regierung den Aborigines für den Landraub schuldet. Eine Klanginstallation von einem Ritual der Trauer und des Neuanfangs in Südafrika. Eine Filmreihe aus einem eindrücklichen Frauengebetsritual in Zentralasien im Keller des Fridericianums, wo wir als Betrachter selbst in immer neue Räume des Fühlens geführt werden. Aufnahmen von Philipiniern, die Stunde über Stunde, Tag und Nacht in einer Lebensmittelwarteschlange stehen und sich über Politik austauschen. Viele viele Filme, Bilder, Skulpturen, Installationen von Menschen des globalen Südens, die ihre Kraft ausdrücken – Formen des Widerstands, des Zusammenkommens, alter und neuer Rituale. Und immer wieder die Einladung, sich niederzulassen, gemeinsam „abzuhängen“, zusammenzukommen, zu reden, Gemeinschaft zu bilden. Kunst als Widerstand, Gemeinschaft als Kunst – das ist die Botschaft der documenta, wie ich sie verstanden habe.

Und immer wieder lernen wir neue Worte, z.B. NONGKRONG
Nongkrong ist ein indonesischer Slang-Begriff aus Jakarta und bedeutet „gemeinsam abhängen“. Ein ungezwungenes Gespräch und Miteinander, aber auch das Teilen von Zeit, Ideen oder Essen sind in diesem Begriff verankert. Für ruangrupa (die Kuratoren der documenta) ist nongkrong eine wichtige Praxis.

Und was ist jetzt mit dem Antisemitismus? Wenn Künstlergruppen aus dem globalen Süden die reiche Klasse als Schweine darstellt, kann ich das angesichts der jahrhundertelangen Unterdrückung verstehen (allerdings sollte man im Namen aller Schweine dagegen protestieren!). Dass sie gleichzeitig in ihren Widerstand altes Wissen um Liebe, göttliche Kräfte und Rituale einbeziehen, berührt mich. Dass es einige linke Gruppen gibt, die gleichzeitig islamistische oder judenfeindliche Inhalte mittransportieren, ist extrem uncool. Dass man das zum Anlass nimmt, diese erste echte Weltkunstausstellung gegen den globalen Krieg zu diffamieren, ist schade und dumm.

Eine andere Nachricht: Am Montag, 19. September, wird Dieter Duhm 80 Jahre alt. Er ist Autor, Psychoanalytiker, Soziologe, Kunsthistoriker, Initiator des “Plans der Heilungsbiotope“ und Mitbegründer von Tamera. Wir danken für sein großes Lebenswerk als Visionär einer neuen Kultur, sein unbedingtes Engagement für Frieden und unverlogene Humanität, seine tiefe Parteinahme für Wahrheit, besonders in den verdrängten Bereichen von Liebe, Sexualität und Religion. Seine Biografie, seine Bücher und Erkenntnisse sind vielen Menschen ein Licht der Hoffnung geworden. Finde hier mehr zu seiner Biographie.
Wir laden dich ein, Botschaften des Dankes an Dieter Duhm zu schreiben! Wofür bist Du ihm dankbar? Wie inspirieren Dich seine Gedanken und seine Arbeit? Wie siehst Du seinen Beitrag für die Fragen unserer Zeit? Wir freuen uns über Botschaften von max. 500 Worten, bis 18. September, an: .

Als Studientext haben wir – um beide Themen zu verbinden – einige Gedanken von Dieter Duhm zum Thema Kunst gewählt.

Herzlich

Christa

In diesem Podcast kannst du das Editorial und den Studientext HÖREN:


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