Terra Nova

Studientext: Gedanken zur Kunst

„Land, Water, Earth: Call me Mother“. Das Banner von Taring Padi von 2014 war Teil einer Widerstandskampagne gegen ein Kohlekraftwerk in Zentral-Java. Die Künstlergruppe verbrachte dazu zwei Wochen in den Fischerdörfern, die durch das Kohlekraftwerk bedroht waren.

Von Dieter Duhm

Kunst ist die eigentliche metaphysische Tätigkeit des Menschen.
Friedrich Nietzsche

Das Schaffen – das ist die große Erlösung vom Leiden, des Lebens Leichtwerden.
Friedrich Nietzsche

Kunst und Kult: die ursprünglichen Formen der Verehrung und der Kooperation mit den Göttern. Kunst und Sexualität: die eigentliche Form des Eros.

Über Kunst ist nicht viel verbale Mitteilung möglich, weil sie außerhalb jener Gedankenfächer liegt, aus denen die allgemein verständlichen Worte kommen. Wir haben von Anfang an in unserem Projekt Kunstkurse durchgeführt mit der einzigen Instruktion, während der Dauer des Kurses nicht über die sogenannten persönlichen Probleme zu reden. Alle Teilnehmer haben sich in allen Kursen mit Freude daran gehalten. Es war wie eine Erlösung. Kunst ist ein Bereich außerhalb der persönlichen Probleme, es ist eine Basisdimension des menschlichen Lebens, die wir zurückholen in unser Dasein, um zur Fülle zu kommen. Kunst ist eine so eigene und elementare Dimension wie die Sexualität oder die Religion. Das eine kann nicht auf das andere zurückgeführt werden, aber sie gehören alle zusammen.

Kunst ist eine Antwort des Menschen auf die Welt, wenn diese durch ihn hindurch und in transformiertem Zustand wieder aus ihm herauskommt. Die Natur braucht diese Art von Antwort, sie braucht die Kunst als Gegenüber, als Stimulans, als Entwicklungsbeschleuniger. Kunst gehört in jedes ökologische Gelände, an die Mauern von Ruinen, an die Wände der Metallwerkstatt. Systeme, in denen die Kunst fehlt, gehen mit Sicherheit am Schöpfungsprinzip vorbei. Ich meine das nicht so dogmatisch, wie es klingt, denn Kunst kommt aus dem Überschwang eines heiteren, sternenklaren Geistes. Sie ist auf besondere Weise eine Objektivierung des Lebens und der eigenen Person, sie entbindet uns von der Identifikation mit den alltäglichen Dingen und mit uns selbst. Darin liegt ihre immense Heilkraft.

 

 

Wer voll in der Kunst steht, hat ein anderes Verhältnis zum Leben: Es ist sein Stoff, sein Metier, seine dauernde Herausforderung für neue Gestaltung. Überall ist Leben, überall ist Schöpfung, die wir wecken, indem wir an ihr teilnehmen. Ein Künstler ist das Gegenteil von einem Opfer. Als Künstler folge ich nicht den Sollwerten der Gesellschaft, sondern dem Kontinuum des Lebens, das keinen Namen hat und keinen Stempel trägt. Im schöpferischen Kontinuum verlieren alle Dinge ihre Alltäglichkeit. Ich entdecke die Metaphysik einer Samenkapsel. Ich bin berührt von der großen Gegenwart, die in diesen kleinen Dingen steckt. Ich muß Antwort geben. Ich kann nicht anders. Als Künstler transzendiere ich die Weisheitssprüche von Moral und Religion. Ich durchbreche laufend die Gewohnheiten von mir selbst und meinen Mitmenschen. Der grimmige Blick, der mich daraufhin empfängt, ist dann kein zwischenmenschliches Problem mehr, sondern selbst schon die Arabeske einer fließenden, immer lebendigen künstlerischen Welt. Ich löse Probleme auf, indem ich nicht mehr an ihnen teilnehme. Wieviel löst sich von selbst auf, wenn wir kreativ werden! Tränen der Freude, das Leichtwerden der Schaffenden. Teilnahme an der Schöpfung. Ich habe es drei Wochen lang auf Korfu erlebt, habe die Erlebnisse aufgeschrieben und aufgemalt im „Buch Sidari“. Wir haben es auch in einem Kunstkurs auf Lanzarote erlebt. Als Basislager wählten wir einen Schrottplatz. Dokumentiert haben wir dieses gemeinsame Abenteuer in dem Kunstband „Die Wäscheleine“.

Meistens bedienen wir uns in unseren Kunstkursen des Mediums der Malerei. Wir erfahren hier – wie auch in authentischer Musik, Tanz und Theater – das Zusammenspiel von Eigenkräften und Weltkräften auf eine spezielle Art, wie sie den Es-Kräften der Schöpfung zu eigen ist. Die Kunstpädagogin Gertraut Schottenloher hat dies in sehr schöne Worte gefaßt (in „Kunst und Gestaltungstherapie in der pädagogischen Praxis“):

Wenn ich zu Pinsel und Farbe greife, geschieht das mit Freude, falls ich dabei frei von dem Gedanken bin, eine Aufgabe erfüllen oder eine Leistung vollbringen zu müssen. Je tiefer ich in den Malprozeß gleite, umso mehr verschwinden Überlegungen, warum ich es tue, wie ich es mache, wie ich mich fühle. Wenn ich mich wirklich versenke, hört das Denkkarussel im Kopf auf, das sich sonst die meiste Zeit dreht, oft ohne daß ich es bemerke. Es wird Stille. Ich bin totalim Augenblick, total aufmerksam im Prozeß des Gestaltens, des Verwandelns von Form und Farbe. In dieser Stille, diesem Zustand von Aufmerksamkeit und Versenkung – jenseits der Gedankenmühle – steigt tiefes Wissen in uns auf, das sich im Gestaltungsprozeß formt, wobei es sich der Vernunft entzieht, da seine Sprache andere Dimensionen hat.

Henri Matisse hat die Suche nach der ursprünglichen Wahrheit in der Kunst auf den Punkt gebracht, als er folgende Worte formulierte:

Das Wahre und Wirkliche in der Kunst beginnt erst dann, wenn man nicht mehr begreift, was man tut und was man kann, und dennoch eine Kraft in sich spürt, die umso stärker wird, je mehr man ihr entgegenwirkt und sie verdichtet. Man muß sich deshalb ganz klar, rein und unschuldig darbieten, scheinbar erinnerungslos, gleich einem Kommunikanten, der zum Abendmahl geht. Offenbar müssen wir lernen, unsere Erfahrungen hinter uns zu lassen und zugleich die Frische des Instinkts zu bewahren.

Das sind Elemente eines ursprünglichen Entdeckungs- und Heilungsvorgangs, der mit Kunst zu tun hat. Aber Kunst geht noch weit darüber hinaus. Wir entdecken die Freude der Zelebration. Kunst ist ein Aufatmen im Geschenk des Lebens. Wir alle haben die Ikonen des Leidens verinnerlicht durch künstlerische Bilder: Kruzifix, Fegefeuer, Hölle, Martyrium und Verdammnis. Ungeheure Seelenbilder von Mühsal und Qual hat die Menschheit in ihrem Herzen errichten müssen, um sich an den Zustand des Leidens zu gewöhnen. Jetzt wollen wir das Gegenteil schaffen: Ikonen der Lebensfreude, der Sinnlichkeit, der Liebe und der Gemeinschaft. Die fürchterlichen Ikonen der alten Zeit und der alten Kirchen ersetzen durch neue Ikonen des Lebens – das ist das größere Thema der Kunst, dem ich mich in den nächsten Jahrzehnten widmen möchte.

Anfang Juni 1999, in einem unserer Kunstkurse, kamen in einer Morgenandacht von Sabine Lichtenfels folgende Worte zu uns:

Kunst kommt nicht von Können. Kunst kommt aus der Begegnung mit dem wahren und vorurteilsfreien Sehen. In diesem Sinn ist der Künstler ein echter Zen-Meister. Solange du dein Handwerk verstehst, bist du noch nicht Künstler. Dein Handwerk sei eine Ausrüstung der Kraft, um den Weg der Kunst betreten zu können.

Kunst kommt aus der tiefen Verbundenheit mit der Welt als Schöpfung. Sie kommt aus der inneren Bereitschaft, Altes immer wieder neu loszulassen und sich frei zu machen für etwas Neues. Wirkliche Kunst ist immer eine Neugeburt. Du nimmst teil an demjenigen Aspekt des Welten-Ichs, in dem die Welt immer aus Neuschöpfung besteht.

Kunst kommt nicht von Können. Aber sie kommt aus der inneren Bereitschaft der Lernenden, ihr inneres sehendes Auge so geöffnet zu halten, daß sie täglich das Neue sehen und wahrnehmen können. Das ist das große und wahre Können eines Künstlers, das jenseits von Mode liegt und jenseits von Geschmack. Kunst ist immer eine Neugeburt. Halte dich bereit. Der Rest geschieht von selbst.

Kümmere dich nicht um deine Kunstfertigkeit, sie kommt von selbst, sobald du losläßt und es verstehst, mit dem zu gehen und zu sein, was du wahrnimmst.

Tue das, was du tust, ganz. Tue es bewußt und klar, und du wirst dich aus dem Nebel des Naturalismus erheben und bemerken, daß die Welt niemals das ist, was du glaubst, daß sie sei. Vernichte mit Humor deine vielen alten Vorstellungen und Bilder davon, was die Welt zu sein habe, bis das kindliche Staunen und die kindliche Freude am Tun selbst dich wieder zu dir holen.

Kunst ist die Feier der Schöpfung. Kunst ist Andacht und Heiligung. Kunst ist die tiefste Verbundenheit mit dem reinen Sein, ohne weitere Absicht und ohne Ziel. Dort, wo du wahrhaft zum Künstler wirst, wirst du emporgehoben auf eine Ebene des Erkennens, die dich die Zusammenhänge eines wirklichen Friedens viel tiefer schauen und verstehen lassen. In diesem Sinn ist die Kunst immer auch Arbeit an sich selbst. Am Ende steht der wirkliche Lebenskünstler.

Am Ende steht die Person, die mit heiterer Gelassenheit die vielen Aspekte des Seins als eine Schaffende zu sich geholt hat. Eine tiefe Versöhnung mit sich selbst und der Welt findet statt, aus der wirkliche Veränderung hervorgehen kann. Ein Künstler ist kein Opfer mehr, weder von sich selbst noch von der Welt. Aus dieser Verbundenheit wirst du die wirkliche Lebensfreude zu dir holen in die einfachsten Aspekte deines Alltages. Diese Lebensfreude ist tiefer und stiller geworden als der erste Jubel, der am Anfang stand.

Aus dem Buch: Die heilige Matrix – von der Matrix der Angst zur Matrix des Lebens. Dieter Duhm


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