von Dieter Duhm

Was haben wir mit den Flüssen gemacht? Wir haben zweierlei Dinge mit ihnen gemacht: Wir haben unsere Abwässer in sie hineingeleitet, und wir haben sie begradigt. Beides haben wir auch mit dem Eros gemacht, und in beiden Fällen haben wir dasselbe Ergebnis erreicht: Wir haben der Sache ihre natürliche Schönheit und Heilkraft genommen. (…)

Der Eros ist schwingend und tanzend wie das Wasser im Fluss; es fließt nach rechts und fließt nach links, und jetzt fließt es sogar rückwärts, dann wirbelt es um sich herum und beginnt mit einer neuen Richtung, aber es ist doch immer das Wasser desselben Flusses. Man kann sich ganz auf dieses Wasser, auf seine Heilkraft, seine Trinkbarkeit, seine Durchsichtigkeit verlassen, wenn man es nicht stört.

Man kann sich auch ganz auf die Wirksamkeit der Liebe, auf ihre Wärme, ihren Charme, ihre Schönheit und ihre Heilkraft verlassen, wenn man sie ebenfalls nicht stört. Man darf sie aber nicht festbinden wollen an einen einzigen Menschen. Man darf ihr nicht vorschreiben, was sie tun darf und was nicht, man darf sie nicht in die Bahnen der eigenen egoistischen Wünsche zwängen wollen, und man darf sie vor allem nicht so sehr verkleinern wollen, dass sie in die eigene kleine Vorstellung passt. Wenn man ihr das Bett zu eng macht wie beim Fluss, dann reißt sie irgendwann gewaltsam die Dämme ein. Es kommt dann „bei biederen Familienvätern und angesehenen Kollegen”, wie es immer in der Zeitung steht, plötzlich zu „unerklärlichen” Eruptionen, Hassausbrüchen, Amokläufen, Gewalttaten.

Was ist gewalttätiger: der Strom, der durch die Dämme bricht, oder die Dämme, die ihn einengen? hat Bert Brecht gefragt. Was ist grausamer: die Gewalttat eines durchgedrehten Amokläufers oder das moralische Gesetz, welches ihn dazu veranlasst hat?

Eine gewaltfreie, ökologische Kultur wird der Natur ihre eigenen Bewegungsformen zurückgeben, dem Fluss die Mäander, den Wesen ihre Schwingung und der Liebe ihren Tanz.

Aus dem Buch: Der unerlöste Eros von Dieter Duhm