Terra Nova

Von Drachen und Träumen

von Jens Böttcher, Schriftsteller und Musiker

Chaos. Ein Urknall. Eine Bedrohung, ganz plötzlich. Ein Wecker. Seelenunordnung. Ängste, die lange tief in uns gebunden und gezähmt waren, werden entfesselt. Angst vor Krankheit und Tod. Vor dem Verlust unserer Sicherheiten, dem Verlust des Gewohnten. Angst vor Pleiten. Angst vor Einsamkeit. Angst vor Entwürdigung, Entmenschlichung. Angst davor, nicht Recht zu haben, Angst davor, die Kontrolle und die Macht zu verlieren. So viel Angst. 

Doch Angst ist kein weiser Ratgeber. 

Angst ist ein Drache, der uns lähmt. Dabei wissen wir gar nicht, ob er nicht etwas Gutes im Schilde führt. Vielleicht ist es sogar möglich, auf seinen Flügeln zu reisen – in eine bessere, eine schönere, eine heilere Welt. Eine Welt, von der wir manchmal zu träumen wagen. Wenn wir nicht gerade damit beschäftigt sind, mal wieder einen Weg zu finden, der – in Anlehnung an einen Satz des Philosophen Adorno – uns ermöglicht ein richtiges Leben im Falschen zu finden.

Doch wie würde sie aussehen, diese Welt? Wenn wir all die Ängste überwunden hätten? Wenn die Angst uns losließe, weil wir bereit wären, sie loszulassen?

In was für einer Welt möchten wir leben?

In einer, in der wir uns gegenseitig anschreien, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind? In der wir all jene verachten und verspotten, die etwas anderes glauben als wir? Sind wir nicht klug geworden aus der Geschichte der Gewalt, aus den haarsträubend-sinnlosen Religions- und Gebietskriegen, den Schlachten um Kontrolle, Macht und Rechthaberei. Sind wir dem Mittelalter noch immer nicht entwachsen? Möchten wir in einer Welt leben, in der immer der Stärkere oder der Lauteste gewinnt? Oder möchten wir jene zu Helden erklären, die uns Weisheit und Sanftheit bringen, jene, die Konflikte gewaltlos lösen – in einer Welt leben, in der am Ende die Güte gewinnt? Nicht das Fördern und Fordern, nicht das Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn, sondern das Hilfsbereite, das bedingungslos Freundliche, das Wertschätzende? In einer Welt, in der wir uns erkennen und respektieren, in der wir unserem Gegenüber zuhören, ohne ihn zu verdächtigen, uns etwas Böses zu wollen? Ohne, dass wir ihn, den Anderen, bezichtigen „dümmer“ zu sein als wir selbst, nur weil er eine andere Meinung hat, einen anderen Glauben – oder eine andere Angst. 

In was für einer Welt möchten wir leben?

In einer Welt, in der wir Leben nur dann zu schützen bereit sind, wenn es uns selbst oder unser Haus betrifft? In einer Welt, in der seit Jahrzehnten täglich Abertausende an Hunger und Durst leiden oder sterben, in Armut, einsam und verlassen, frierend und verzweifelt an unseren Stränden und Grenzen auf den Tod warten, in einer Welt, in der die Würde der Anderen nie so viel zählt, wie unsere eigene Würde? 

Doch würde unsere Würde, würde nicht jede Würde ins unermessliche wachsen, wenn wir aufhörten, den Anderen zu missachten, ihm stets Schlechtes zu unterstellen? Würde nicht jede Würde in den Himmel wachsen, wenn wir beginnen, unsere Nächsten zu lieben, wie uns selbst? Wäre es nicht ein erster Schritt, würden wir damit beginnen … uns selbst zu lieben wie uns selbst? 

Würde unsere Würde nicht in den Himmel wachsen, wenn wir nicht nur Coronatote vermeiden, um unser Gesundheitssystem nicht zu überlasten, sondern auch Hungertote, Kriegstote, Kapitalismus-Tote, Herzenskälte-Tote um unser kollektives weltweites Seelengesundheitssystem nicht zu überlasten?

In was für einer Welt möchten wir leben?

In einer, in der das, was uns wichtig ist, an der eigenen Haustür, beim eigenen Smartphone endet? Oder in einer Welt, in der wir unsere Nächsten sehen und schätzen, weil wir genau das für uns selbst wünschen: Geschätzt, geachtet und geehrt zu sein. Ganz besonders, wenn die Not in unser Leben tritt, doch nicht nur dann. Warum sollte dies nicht auch für die Freude gelten?

Jesus sagte das gleiche wie Immanuel Kant. Koran, Buddhismus und Hinduismus, Judentum, Jainismus, Daoismus und Humanismus lehren es uns ebenfalls – das menschliche Herz sehnt sich nach diesem einfachsten Gesetz der Achtung:

Behandele die Anderen so, wie du selbst behandelt werden möchtest. 

Wie möchten wir behandelt werden? In was für einer Welt möchten wir leben? 

In einer Welt aus immer weiter wachsendem Misstrauen, Zwang, Zensur, Verachtung, Verdächtigung, Intoleranz, Entwürdigung und Furcht? Oder in einer Welt aus Liebe, Güte, Geduld, Freundlichkeit und Sanftheit. 

In einer Welt, die am Ufer eines großen unsichtbaren Tränenflusses gebaut ist? Oder in einer Welt, in der wir aus den Brunnen der Liebe täglich unser Lächeln schöpfen?

Und … wer trifft diese Entscheidung, wenn nicht wir? Sollen wir darauf warten, dass ein Politiker, ein religiöser Führer, ein Kluger, ein Mächtiger, für uns entscheidet? Aber was, wenn diese Mächtigen doch immer nur wir selbst sind? Und was, wenn der Drache der Angst in Wirklichkeit nichts anderes möchte, als uns auf seinen mächtigen Schwingen hinfortzutragen .. 

In die Welt, in der wir eigentlich leben möchten.

In die Welt, in der wir sein möchten.

In die Welt, in der wir sein dürfen, was wir sind.

Jeder einzelne. 

Gesehen. Geschätzt. Geliebt.

Wer könnte sie nicht wollen, diese Welt?

Wer könnte sie nicht wollen, diese friedvolle Welt?

Wer könnte sie schaffen außer uns selbst?

Lasst uns auf den Flügeln des Drachen reiten.

Und wann immer jemand runterzufallen droht,

dann halten wir ihn fest. 

Halten wir uns fest. 

Es ist die Liebe, die uns halten wird.

Lasst es uns wagen, ihr zu vertrauen. Nicht in zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren. 

Jetzt. Dann lasst uns die Menschlichkeit wagen, die wir alle uns wünschen,

die wir alle seit langer, langer Zeit ersehnen. 

Jetzt.

www.jensboettcher.net

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