Vom Zusammenleben mit einer gelähmten Hündin

Von Lee von dem Bussche
Pumi ist etwa drei bis vier Jahre jung, hat bereits mehrmals Welpen geboren und ist mit ihren 6,7 kg ein kleines Energiepaket mit unendlich grosser Liebe und Dankbarkeit für das Leben. Pumi heisst so, weil sie aussieht wie ein kleiner Puma: wild und authentisch.
Wir fanden sie an einem Ort, wo wir bereits früher auf Tierleid gestossen waren. Als sie uns sah, kroch sie aus dem dichten Brombeergebüsch über die kleine Strasse auf uns zu. Ihr Fell war vollkommen verfilzt und war über und über mit Zecken bedeckt, ihre verletzten Hinterfüsse schleiften über den steinigen Untergrund. Die Wunden an den zarten Beinen waren sehr tief, teilweise bis zum Knochen. Pumi setzte sich auf und jaulte. Für mich klang es wie der Aufschrei einer Seele: Nehmt mich mit!
Wir erfuhren von der Nachbarin, dass Pumi fünf Wochen zuvor von einer grossen Hündin in den Rücken gebissen worden war, wobei wohl ein Brustwirbel brach. Die Besitzer leben in schwierigen Verhältnissen, sie hatten Geld für einen Tierarzt, aber auch kein Mitgefühl für das Leid der Hündin. Dass Pumi im Hochsommer dennoch überlebte, ist wie ein Wunder. Als wir ihren knochigen und dehydrierten Körper fühlten, war uns klar, dass sie ohne Hilfe wohl innerhalb der kommenden Stunden sterben würde.
Die Besitzer überliessen sie uns, wir brachten sie ins Krankenhaus. Die Ärzte meinten, dass eine OP nicht mehr möglich sei, die Wirbelsäule war bereits schief zusammengewachsen. Eigentlich dürfte das Tier dem Röntgenbild zufolge keinerlei Reflexe und Empfindungen in den Hinterbeinen mehr haben, aber das war glücklicherweise nicht der Fall; die Bewegungsfähigkeit war eingeschränkt, aber zumindest ansatzweise vorhanden. Der Arzt meinte das er dieses mysteriöse Phänomen kennt und wir gespannt sein können, was dennoch an Heilung passieren kann. 🙏 Das Nervensystem kann durchaus zum Teil wieder regenerieren.
Mein Partner und ich nahmen Pumi mit in unser Haus, wo wir immer wieder Tiere mit besonderen Bedürfnissen pflegen. Das Zusammenleben mit dieser Hündin ist eine echte Herzensreise. Zuerst aber ging ich in eine tiefe Auseinandersetzung: Gehe ich nicht zu weit mit meiner Tierliebe – einen Hund mit einem Rollwagen auszustatten, ihm eine Windel anzuziehen und so weiter? Durch die Leidensgeschichte dieses Wesens,das jetzt in meiner Obhut war, fühlte ich einen noch unbekannten Schmerz im eigenen Herzen. Doch auch ihr unbedingter Lebenswille und ihre Freude berührten mich tief. Da gibt es kein Gefühl von Mangel oder Minderwertigkeit, sondern nur puren Dank für jeden Augenblick des Lebens. Pumi ist auffallend selbstbewusst, geniesst die Rolle als Wachhund am Gartentor und rennt (rollt!) mit den anderen Hunden um die Wette, wobei sie stets gewinnt.i

Ich wurde 1963 geboren, in eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs mit dem miefigen Geruch der Nachkriegszeit und der Illusion eines American Dream – mit Zucker, Sex und Plastikglück. Meine Mutter, Flüchtlingskind des Zweiten Weltkriegs, hatte einen grossen Lebenshunger und ein mitfühlendes Herz für Menschen und Tiere. So bin ich in einem kleinen Zoo aufgewachsen, in dem wir nicht selten die unterschiedlichste Tiere beherbergten und wo Gattungen zusammenlebten, die sich normalerweise spinnefeind sind. Durch die Hüterschaft meiner Mutter vertrugen sich aber Tiere verschiedener Spezies wie Enten, Katzen und kleine Schweine. Mitgefühl und Hilfe für Tiere in Not waren damals in unserem Dorf noch eher unbekannt. Tiere waren zum reinen Nutzen für die Menschen da. Man gebrauchte Nutztiere so selbstverständlich, wie man früher Menschen als Sklaven ausgebeutet hatte. Kälber wurden abgestillt und im Dunklen eingesperrt, damit ihr Fleisch schön weiss blieb…
Die Theologin und Tierschützerin Christa Blanke hat das Unrecht treffend auf den Punkt gebracht: «Vor 130 Jahren hat die Kirche geschwiegen, weil es nur Schwarze waren. Vor 60 Jahren hat die Kirche geschwiegen, weil es nur Juden waren. Heute schweigt die Kirche, weil es nur Tiere sind.» Der Besuch eines Hühner-KZs als Neunjährige war für mich ein bleibender Eindruck. Die Hühner werden auf engstem Raum gehalten und verletzen und töten sich zwangsläufig gegenseitig. Wir haben damals ein Huhn, das noch atmete, aus einem Leichenberg herausgezogen und wieder gesundgepflegt. «Clementine» wurde acht Jahre alt, war ein Teil der Familie, klug und anhänglich und hat, soweit ich mich erinnere, jeden Tag ein Ei gelegt.
Mein Vater brachte eines Tages eine Handvoll Kätzchen mit, die er auf einer Baustelle befreit hatte, nachdem er hinter einer frisch gemauerten Wand das klägliche Jammern vernommen hatte. Diese Heldentat ist in meinem Herzen geblieben.

Ist das nicht unglaublich? Bei allen Errungenschaften und bei aller Intelligenz ist die Menschheit in Bezug auf Tiere auf dem Niveau einer barbarischen Kultur steckengeblieben! Ich denke, dass die Gewalt gegenüber hilflosen Wesen damit zu tun hat, dass wir den eigenen Schmerz, die Unterdrückung, die Einschränkung unserer Potenziale und Vitalität, die wir selbst erfahren haben, unbewusst an die Schwachen weitergeben. Die letzten in der «Schmerzkette» sind die Kinder und die Tiere.
Gandhi sagte: «Die Grösse einer Nation und ihre moralische Reife lassen sich daran bemessen, wie sie ihre Tiere behandelt.»
Ich ersehne eine Welt, in der alle Wesen dieser Schöpfung Heimat finden. Wo man sich in seinen unterschiedlichen Qualitäten kennenlernen kann und entfalten darf zum Wohle aller. Wo wir lernen, uns zu ergänzen, statt uns zu vergleichen. Ich ersehne ein System, wo man nicht mehr nach unten tritt und nach oben buckelt, sondern wo wir im eigenen Herzen erkennen, wie Kooperation mit allen Wesen aussieht. Humanisierung, das ist für mich ein Lernvorgang mit voller Lebensbejahung, wo viele Energien und Potenziale zur bewussten Entfaltung kommen. Ein erster Schritt dahin besteht darin, in unserem eigenen verletzten Inneren diese Heilungsarbeit zu beginnen.

Durch Pumi kam ich in Berührung mit einem Opfer einer verrohten Lebenssituation unter Menschen. Ich halte sie in meinen Armen. Sehe ich ihren Lebensmut und ihre Schönheit? Nehme ich ihren Schmerz behütend unter meine «Flügel»? Oder rutsche ich selbst in eine dunkle Ecke, indem ich sie als Last sehe?
Ich habe beide Aspekte in mir kennengelernt. Auf der einen Seite stellte ich fest, dass ich in diesem Hund einen Heilungsauftrag gefunden hatte. Das war kein Zufall. Gleichzeitig war ich unsicher, selbst wie gelähmt: Was soll ich denn jetzt machen, ein geh-unfähiger Hund, ein Wesen, das starke Hilfe braucht und mein Leben deutlich beeinflussen wird?
Ich bin sehr dankbar, dass ich meinem Herzen gefolgt bin. Mittlerweile habe ich gelernt, die alltäglichen Abläufe rund um Pumi so zu strukturieren, dass sie mit meinem Berufsleben und meinen sonstigen Aktivitäten zusammenpassen. Wenn ich ein bisschen länger weg bin, hole ich mir Hilfe.
Pumi hat einen Offroad-Rollwagen, mit dem sie durch den Garten flitzt und spazierenfährt. Von anderen Hunden wird sie voll akzeptiert, und sie verhält sich sehr souverän. Wenn ich erschöpft bin und denke, dass es mir alles zu viel ist, dann merke ich nach einer kurzen Reflexion meist: Die eigentliche Ursache meiner Verzweiflung liegt doch woanders. Sehr oft ist da ein verdrängter Liebeskummer, der in alle Richtungen meines Seins ausstrahlt.

Echte Lebensfreude hat nichts zu tun mit oberflächlicher Kraft und Perfektion, sondern mit Wahrheit und Authentizität. Die Frage ist spannend: Welche Momente berühren uns so, dass wir sie auf einer tieferen Ebene – sozusagen direkt im Kern – spüren? Hier kommt etwas zur Ruhe.
Ich empfinde es als einen Aspekt meiner Lebensaufgabe, die oberflächliche Perfektion zu verlassen und dahin zu schauen, wo das wirkliche vibrierende und nährende Leben zu finden ist.
Ich habe mein Leben als erfolgsversprechender und privilegierter Mensch gestartet, fühlte mich als potenzielle Gewinnerin. Ich musste eine gewisse Arroganz durchlaufen, die Härte der Starken gegenüber denen, die bestimmte Attribute dieser Gesellschaft nicht mitbringen. Pumi lässt mich nun auch die Kehrseite des Lebens kennenlernen. Sie lehrt mich, das Korsett der gesellschaftlichen Konvention auch in mir zu erkennen – und zu verlassen. Denn auch Vorstellungen von Jugend, makelloser Schönheit, Leistung etc. halten nicht ewig: Wenn man sein Selbstbewusstsein auf diese Oberfläche stützt, werden früher oder später Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste auftauchen.
Es ist heilsam, die Arroganz der vermeintlich Starken zu verlassen und Anteilnahme für alle Wesen einzuladen. Eine Art Demut vor der Schöpfung ist eine Qualität, die es wohl für viele neu zu entdecken gilt. Wir können uns nicht getrennt vom Ganzen definieren. Wir sind viel mehr.
Danke für die Momente tiefer Berührung. Danke für das Prinzip Gnade. Ich bitte darum, dass gerade in der heutigen Zeit, wo die kriegerische Energie sehr massiv wütet, der gewaltige Ruf des Lebens unaufhörlich an unsere Herzen klopft und uns an die Wahrheit unter der Oberfläche erinnert!
Kasten:
Die Autorin lebt in Portugal und kooperiert mit der Organisation Dog Heal https://dogs-heal.org und dem so genannten Hundesanktuarium Tameras für die Rettung, Pflege und Vermittlung von streunenden Hunden: https://www.tamera.org/de/hundesanktuarium/
Gemälde: Lee