Terra Nova

50 Jahre Damanhur – Besuch in der spirituellen Gemeinschaft in Norditalien

Die spirituelle Gemeinschaft Damanhur in Norditalien sieht sich als «mehr als eine Gemeinschaft»: Sie ist ein Volk – mit eigener Sprache, Währung und Verfassung. Im April luden sie anlässlich des 50. Jahrestags ihrer Gründung Vertreter anderer spiritueller Gemeinschaften zu einer kleinen Konferenz ein.

Von Christa Dregger

Damanhur Video
Von meinem Besuch gibt es einen kurzen Film, den man sich hier anschauen kann: https://transition-tv.ch/beitrag/50-jahre-damanhur/

Seen, Wasserfälle, Schneeberge, Schluchten, Palmen, lebhafte Dörfer und viele Villen am Hang mit einem unglaublichen Ausblick: Das Valchiusella-Tal in den Südalpen ist eine wunderschöne Gegend. Ehemals ein textiler Industriestandort und Sitz des norditalienischen Schreibmaschinenherstellers Olivetti, ist sie jetzt vor allem Hinterland der Grossstädte Turin und Mailand. 

Hierher zog 1975 eine Gruppe von 25 jungen Leuten aus Turin und gründete die Föderation von Damanhur. Angeleitet wurden sie dabei vom Maler Oberto Airaudi, genannt Falco. Falco war damals selbst erst 25 Jahre alt, hatte sich aber durch die Fähigkeit, sich an vergangene Leben zu erinnern, aussergewöhnliches Wissen angeeignet und einen Namen gemacht. Er gab Kurse in spirituellen Praktiken, Reinkarnation, Traumerfahrung und mehr. 

Hier bei Vidracco, so fanden sie, überkreuzten sich mehrere «synenergetische Erdlinien» – ein geeigneter Ort, um das geistige Feld der Erde zu beeinflussen. «Wir wollten nicht nur meditieren, sondern unserer Spiritualität auch einen manifesten Ausdruck geben», erklärt Macaco Tamerice, eine unserer Gastgeberinnen.

Und bald begann die Gruppe mit dem, was die Gemeinschaft berühmt machen sollte. Falco hatte die Vision eines hellen Sterns, der an einer bestimmten Stelle auf die Erde fällt. Genau dort wollte er «mit blossen Händen» den Felsen aushöhlen. Sie begannen, heimlich zu graben, zunächst mit Spitzhacken und Presslufthämmern – alles im Schutz der Nacht, denn für einen unterirdischen Bau hätte es nie eine Genehmigung gegeben. In Menschenketten trugen sie den Aushub in Eimern weg – insgesamt 2 Millionen! 16 Jahre lang bauten sie die heutigen unterirdischen «Templi dell’Umanità», die Tempel der Menschheit, mit mehreren Hallen auf fünf Ebenen, laut Wikipedia bis hinab in 70 Metern Tiefe, mit einem Volumen von 850’000 . 

Steigt man heute hinab in die Tempel, kann man nicht anders als staunen: Auf den unscheinbaren Einstieg folgt bald eine Explosion von farbigen Wandmalereien, Symbolen und vielen verschiedenen Deutungsebenen, ein wahres Labyrinth und eine lebendige Bibliothek der Geistes- und Religionsgeschichte. Auf den Führungen für Besucher, die etwa zwei bis drei Stunden dauern, bekommt man jeweils nur einen Teil der Tempel zu sehen. Der Bau des Tempels erforderte Ausdauer und immer neue Ausbildungen: Welche Farben halten Feuchtigkeit aus? Wie stabilisiert man Stollen? Und all das heimlich.

Doch 1992 wurden sie von einem ehemaligen Mitglied verraten. Verhandlungen mit Behörden folgten. Diese drohten, den ganzen Berg zu sprengen. Am Ende wurde der Tempel von der Aufsichtsbehörde für bildende Künste zum Kunstwerk erklärt und durfte bleiben. Heute ist er eine Attraktion für Touristen und spirituell Suchende und wird im Guinness-Buch der Rekorde als grösstes spirituelles Untergrundbauwerk der Welt geführt.

Falco inspirierte «sein Volk» aber nicht nur zum Bau des Tempels, sondern noch zu vielen weiteren ungewöhnlichen Leistungen in Forschung, Handwerk, Heilung, Kunst und Geheimwissenschaften, von denen man nur am Rande erfährt: So beschäftigte sie sich eine Weile intensiv mit Zeitreisen und mit der Kommunikation mit Pflanzen. Die Gemeinschaft war teilweise als Sekte verschrieen. Doch sie wuchs zeitweilig auf 700 Menschen und erstreckt sich auf viele Häuser im ganzen Tal, inmitten der «normalen» Bevölkerung. 

Was macht diese Gruppe so besonders? Vielleicht ihre unbändige Kreativität. Macaco: «Wir sind unglaublich praktisch. Wir wollen allen Erkenntnissen, Konflikten, Bemühungen einen äusseren Ausdruck geben.» Das merkt man allenthalben in Damanhur: Die meisten Häuser sind bunt bemalt. Jedes Jahr gibt es eine Olympiade der Künste, die Ergebnisse sind in den äusseren Tempeln zu bewundern: Einige der Statuen sind meisterhaft, andere eher Anfängerarbeit, aber alle sind aus dem vollen Leben geschöpft.

Jedes Gemeinschaftsmitglied gibt sich einen Tier- und Pflanzennamen: Falco Tarassaco – Falke Löwenzahn, Macaco Tamerice – Affe Tameriske, Gallo Cidrone – Auerhahn Eibe …  So sollen jedes Mal, wenn jemand die Namensträger ruft, auch die Frequenzen des jeweiligen Naturwesens erklingen – ist das nicht liebenswert?

Ihre soziale Intimität leben die Damanhurianer in sogenannten Nucleos: Das sind Wohngemeinschaften von 5 bis 25 Menschen, die sich mit einer gemeinsamen Aufgabe beschäftigen – etwa Solarenergie, Heilung oder Lebensmittelproduktion –, die gemeinsam ihren Alltag bestreiten. Die ganze Gemeinschaft – das Volk – kommt immer wieder zu grossen Festen in den Tempeln oder zu Ritualen zusammen. Verbindend ist für alle die Meditationspraxis, die in der Meditationsschule von Damanhur gelehrt wird. Mit ihrer Kreativität und ihrer spirituellen Heransgehensweise fanden sie ungewöhnliche Lösungen für viele Herausforderungen, und davon gab es einige.

Falco starb 2013 an einer Krebserkrankung – ein grosser Verlust (nicht nur) für die Gemeinschaft. Ich habe Falco bei meinen Besuchen als warmherzigen, nahbaren Mensch unter Menschen erlebt, aber mit einer echten Gabe. Viele Gemeinschaften überleben es nicht, wenn ihr Gründer stirbt. Damanhur half es in dieser Situation, dass man von Anfang an ein soziales System aufgebaut hatte, bei dem die Verantwortung und Entscheidungsmacht auf viele Schultern verteilt wurde. Dennoch ist ein Gründer immer eine Art menschlicher und visionärer Mittelpunkt, der hilft, auch unbequeme oder ungewöhnliche Entscheidungen ohne viele Konflikte zu treffen. Eine unsere Gastgeberinnen meint denn auch: «Wir haben den Tod Falcos noch nicht wirklich verarbeitet – wir haben zu schnell einfach weitergemacht.» Tatsächlich hatte ich den Eindruck, dass dies bei vielen verständlicherweise noch ein wunder Punkt ist, über den nicht gerne gesprochen wird. 

Eine weitere Krise war der enorme ökonomische Engpass, ausgelöst durch die Corona-Massnahmen. Kurse konnten nicht mehr stattfinden und viele Mitglieder ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. Eine schnell eingeführte Gemeinschaftsökonomie des Teilens sowie eine Professionalisierung der Onlinekurse waren in diesem Fall die Lösung, wie der derzeitige Sprecher von Damanhur, der erst 30-jährige Barys Elleboro, ausführt: «Dadurch ist die Meditationsschule von Damanhur heute in vielen Ländern präsent, so etwa in Japan und Peru.»

Ein weiteres Thema ist das Durchschnittsalter von mittlerweile 58. Das wundert uns als Teilnehmer, denn wir sehen viele junge Menschen und Familien mit kleinen Kindern im Welcome Center mit seinem Bioladen und Café. Einige von ihnen sind nach dem «New Life»-Programm für Einsteiger hiergeblieben und möchten Bürger von Damanhur werden. Bis sie als solche aufgenommen werden, leben sie in Nukleos, helfen mit, wo Hilfe gebraucht wird, und versuchen, dabei das Geld für das doch recht teure Leben in dieser Region zu verdienen. Der 20-jährige deutsche Uwe, mit dem ich am Abendessenstisch sitze, glaubt, hier seine Heimat gefunden zu haben: «Mir wurde von Anfang an viel zugetraut, ich durfte einen Garten ganz selbst gestalten und meine ganze Kraft auspowern. Ich kann so viel Gemeinschaft, aber auch so viel Rückzug haben, wie ich gerade brauche; und ich treffe hier Menschen, die mir wichtig sind.»

Bleibt zu hoffen, dass künftig noch mehr junge Menschen die Gemeinschaft bereichern. Der Altersdurchschnitt sei auch deshalb so hoch, erklärt uns einer der Gastgeber, weil das Klima des Tals so gesund sei – hier stirbt man erst weit über 90.

Wir Teilnehmer der Feier– darunter Vertreter von Auroville aus Indien, Findhorn aus Schottland, Tamera aus Portugal, dem ZEGG aus Deutschland sowie von der Schweibenalp, der Kirschblütengemeinschaft und Schloss Glarisegg aus der Schweiz – waren jedenfalls beeindruckt von der Mischung aus grosser Herzlichkeit, nüchternem Einfallsreichtum und überschäumender Pragmatik. 

 

 

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