Terra Nova

«Frieden ist eine (latente)Realität» – oder: Was bedeutet mir Tamera?

Monika Alleweldt
Monika Alleweldt

Ein Gastbeitrag von Monika Alleweldt zu «Tamera»: für DAS BLATT vom Dezember 2024

Auf die Frage «Wer ich bin?» antworte ich mal, wie man so antwortet: auch wenn ich immer weniger weiß, wer ich wirklich bin. Mein Name ist Monika Berghoff. Alleweldt ist mein Mädchenname. Seit einigen Jahren habe ich ihn wieder angenommen: als meinen Künstler- und Autorinnen-Namen.
Mein Vater wurde in Kanada geboren. Seine Eltern waren aus Deutschland dahin ausgewandert, um ein neues Leben zu beginnen. Meine Mutter wurde in der heutigen Ukraine geboren. Ihr Vater stammte aus einer Familie von „Wolgadeutschen“ und musste unter Stalin aus Tiflis fliehen. Ihre Mutter war Russin. Beide Familien kamen zum Teil auf abenteuerlichen Wegen mitten im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurück. Die Träume von einem neuen Leben in der Ferne waren ausgeträumt. 

Ich bin im Nachkriegsdeutschland in der Zeit des Kalten Krieges aufgewachsen. Die Russen, so hieß es überall, waren die Bösen, die Amerikaner die Guten. So lernte ich früh, dass das, was öffentlich gesagt wurde, nicht immer wahr sein muss. Denn weder meine Mutter, noch meine Oma waren böse. Sie versuchten aber, ihre Herkunft vor den Leuten in unserem Dorf zu verbergen. Sie brachten uns nicht ihre Sprache bei, obwohl sie miteinander dauernd russisch sprachen und russische Lieder sangen. Beides aber nur, wenn wir Kinder nicht in der Nähe waren. Stattdessen brachte unser Vater uns Englisch bei, was aber nicht oft vorkam: denn er war selten zu Hause.

So ist mein Leben davon gekennzeichnet, dass sich in meinem persönlichen Erleben immer auch globale Ereignisse widergespiegelt haben. So wie das mein Name schon sagt … 

Ich habe Agrarwissenschaften studiert mit dem Wunsch, einmal helfend in der sog. Dritten Welt tätig zu werden. Doch ein erster Aufenthalt im „Entwicklungsland“ Guatemala im Rahmen meines Studiums, setzte diesem Wunsch ein jähes Ende. Ich erlebte hautnah, was Ausbeutung, Genozid und globales Unrecht bedeuteten. Ich begriff, dass ich als Entwicklungshelferin vielleicht hie und da Einzelnen das Leben erleichtern könnte. Aber das System als solches bliebe davon unberührt.

Die Quelle dieses Leids, das wurde mir während dieser Reise unmissverständlich klar, lag in meiner Kultur! Da müsste ich etwas verändern, wenn ich wirklich helfen wollte. Aber was genau? Ich wurde krank, kam mit letzten Kräften zurück nach Deutschland und musste monatelang das Bett hüten. Das Gute daran war, dass ich Zeit hatte, die schwere Sinnkrise durchzuarbeiten, in die ich geraten war. 
Wenn ich heute zurückschaue, dann war diese Reise der Beginn eines langen Weges auf der Suche nach einer Vision und realistischen Möglichkeiten, das globale Unrecht zu beenden. Immer wieder verlor ich diese Frage aus den Augen, wurde aufgesogen von unbewältigten Alltags- und Liebesproblemen. Doch sie ließ mich nie ganz los. Und so führte sie mich über viele Umwege Ende der Achtzigerjahre in ein Projekt in Deutschland, aus dem sich später Tamera in Portugal entwickelte.

Vor einiger Zeit erschien mein erstes Buch mit dem Titel „Die globale Befreiung von Angst und Gewalt: Ein Heilungsplan für die Erde“ (1). Darin stelle ich eine mögliche Antwort vor. Sie stammt ursprünglich nicht von mir, sondern vom Begründer des Projekts «Tamera», Dieter Duhm. Mein Buch war für mich ein weiterer Schritt, mir diese Antwort ganz zu eigen zu machen. Mein Leben geriet dabei auf eine neue, spannende Bahn, was mir Kraft und Zuversicht gab und gibt: trotz allem, was gerade auf dieser Erde geschieht. 

Was bedeutet mir Tamera? 
Tamera ist im Moment der Ort, wo ich dieser Bahn oder Entwicklungslinie am besten folgen kann. Und natürlich ist Tamera mehr als das. Im Verlauf meiner langjährigen Erfahrung im Zusammenleben mit Menschen habe ich viel darüber herausgefunden, wer dieses Wesen „Mensch“ ist und warum es sich und die Erde zerstört. Ich habe meine Schattenseiten kennengelernt sowie die aller anderen Mitglieder der Gemeinschaft und habe es erlebt, in welchem Ausmaß diese Schatten wirkliche Gemeinschaft verhindern, wenn sie nicht bewusst gemacht werden. Tamera ist eine intensive Bewusstseinsschule. Ich bin sehr dankbar für diese Lehre, auch wenn sie nicht immer leicht zu durchlaufen ist. 
Tamera ist für mich auch der Ort, wo ich der Welt auf bestimmte Weise begegnen kann. Hier treffen sich unterschiedlichste Menschen aus allen Kontinenten. Es kommen solche, die in ihrer Funktion als Soldat Schlimmes angerichtet haben und andere, die Opfer fürchterlicher Gräuel wurden. Hier kann es vorkommen, dass eine Friedensaktivistin aus dem Sudan mit einem Milliardär aus Kalifornien an einem Tisch sitzt, und sie ein angeregtes Gespräch führen. Hier kommen tibetische Lamas zu Besuch, die als Kinder über den Himalaya nach Indien kamen, und die lachend sagen, dass sie sich in Tamera sofort zu Hause fühlen. Und vieles mehr. Jeder Mensch ist eigentlich ein ganzes Universum. Ich liebe es, die Welt über diese persönlichen Kontakte kennenzulernen und mich immer mehr in diesem Netzwerk zu beheimaten. 

In Tamera können ungewöhnliche Gedanken gedacht und umgesetzt werden, so zum Beispiel der Gedanke von Eike Braunroths Friedensgärten. Es ist spannend mitzuerleben, wie wir Menschen mit Wildtieren wie zum Beispiel Ratten oder Wildschweinen kommunizieren können, anstatt sie als Feinde oder Schädlinge zu betrachten und zu bekämpfen.

In Tamera erlebe ich, wie Kinder geboren werden und Menschen sterben. Hier ist das ganze Leben Teil der Erfahrung: Krankheit, Heilung, Lebensentscheidungen, Irrtümer, Liebesglück, Liebesunglück, politisches Engagement, Rückzug. Hier lebe ich mit der Natur und ihren Wesen, hier haben alle meine Mitbewohner und ich Verantwortung für das Land übernommen, auf dem wir leben, für den Abfall, den wir produzieren, und für die Quellen, die uns mit Wasser versorgen. Das Leben wird wieder ganz. In der Nacht leuchten unzählige Sterne. Sie erinnern uns an riesige unbekannte Dimensionen, die uns umgeben. Auch wenn immer mehr künstliche Satellitenlichter sichtbar werden, sagen uns die Sterne doch, dass es eine umfassendere Wirklichkeit gibt, die schon viel länger existiert und ganz andere Wirkkräfte hat als alles, was bisher durch Menschenhand erschaffen wurde.

Diese umfassendere Wirklichkeit soll sich in ersten Lebensmodellen auf der Erde widerspiegeln. Dafür wurde Tamera gegründet. In einem Lied der Sufi heißt es: «Let the heaven be reflected by the earth, Lord, then the earth will turn into heaven.» Warum nur wenige solcher himmel-spiegelnden Orte auf der Erde genügen könnten, um eine globale Veränderung zu bewirken, ist eine Geschichte, die einer eigenen Ausführung bedarf.

Wichtig ist, dass im Kern von Tamera die Aufgabe liegt, die himmlische Liebe auf der Erde zu verankern. Wir erleben den «Himmel auf Erden», wenn wir es einmal wagen, uns ganz der Liebe zu öffnen. Das Glück, das wir dabei erleben, ist unbeschreiblich. Aber es hat keine Dauer. Es kann sich nicht zu dem festen Fundament entwickeln, auf dem eine Kultur des Friedens und Glücks aufgebaut werden könnte. Es hat keine Dauer, weil es eine Stelle gibt, an der es zerbricht. Das ist die Stelle, wo Dritte hinzukommen, wo sich einer der beiden Partner in eine weitere Person verliebt und sie sexuell begehrt. Viele bezeichnen diese Stelle als Betrug, als das Ende der Liebe. Leider ist es das meistens auch. Aus eigener Erfahrung aber weiß ich, dass es diese Stelle ist, an der die Liebe eigentlich erst beginnt. Jetzt muss sie sich bewähren. Bin ich in der Lage, auch jetzt noch den anderen zu unterstützen auf seinem Weg ins Leben? Dieser Weg muss ja nicht dauernd nur um mich kreisen. Oder folge ich der Angst, diesen Schatz zu verlieren und ziehe deswegen einen Zaun um unsere Liebesbeziehung?

Ich kann gleich sagen, dass mehr oder weniger wir alle, auch ich, an dieser Stelle der Angst gefolgt bin. Damit aber zerstören wir das, was wir am meisten lieben. Es ist nicht unsere Schuld, sondern die Folge eines Traumas, einer schlimmen Verletzung, die wir alle einmal erfahren haben. Hier braucht es Heilung, damit wir die Antwort auf die Gründungsfrage von Tamera finden: Wie sieht eine Lebensweise aus, in der die sexuelle Zuwendung eines Menschen zu einem anderen in einem Dritten keine Verlustangst, Eifersucht oder Hass mehr hervorruft?

Wir brauchen kollektiv diese Antwort. Denn es ist nicht nur schlimm für die beiden Liebenden, wenn eine Liebe zerbricht, es ist auch schlimm für alles Leben auf der Erde. Die Liebe kann nicht siegen über die Angst, wie Vaclav Havel es einmal gefordert hat. Sie kann es im einzelnen Menschen nicht und deswegen auch nicht in einer Gesellschaft. Über diese Zusammenhänge gäbe es jetzt viel zu sagen. Ich verweise dazu auf die Bücher der Projektgründer Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels: beispielsweise „Sie erkannten sich: Das Ende der sexuellen Gewalt“ (2).

Diese Antwort immer umfassender zu entwickeln, ist eine von vielen Herausforderungen in Tamera. Eine andere, die eng damit zusammenhängt, ist es, das Projekt an die nächste Generation zu übergeben. Wird es gelingen, dass sie entlang der Gründungsgedanken weiter arbeitet oder wird sie eine andere Richtung einschlagen? Diese Unklarheit entsteht auch, weil sich jedes Projekt von seinen charismatischen Führungspersonen ablösen muss, wenn es Dauer bekommen soll. Ich hoffe, dass wir uns genügend Wissen und Herzkraft angeeignet haben, um diese Phase gut zu durchlaufen.

Die Vision einer Neuen Erde muss standhalten können vor den täglichen Horrornachrichten aus den Kriegsgebieten der Erde. 

Auf meinen morgendlichen Spaziergängen kurz vor Sonnenaufgang spüre ich die Energie eines ungeheuren Friedens. Während sich der Himmel zartrosa färbt, verlangsamen sich meine Schritte wie von allein, werden leise, selbst der Wind legt sich in andächtiger Stille. Eine Verheißung schwingt in der Luft. Jeden Tag von Neuem. Etwas Großes scheint sich vorzubereiten. Bilde ich mir das alles ein, weil ich wie viele andere auch Trost brauche? Rede ich etwas schön? Oder ist das wirklich? Was heißt „wahr-nehmen“?

Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was mit dem Satz „Frieden ist eine (latente) Realität“ gemeint ist. Unsere Sinne haben sich vor dieser Tatsache verschlossen. Unser Geist kennt die einzelnen Gedankenschritte noch nicht, die zum Verständnis dieses Satzes führen. Wir weisen Frieden ab. „Es ist nur ein naiver Traum.“ Oder: „Wie oft schon haben wir uns für den Frieden eingesetzt, aber es wurde alles nur noch schlimmer.“ Die Aussagen stimmen auch auf einer Ebene, aber sie lähmen uns. Sie aktivieren keine Willenskräfte, wir interessieren uns nicht einmal mehr für eine Lösung der globalen Probleme. 

Doch viele Millionen Menschen in aller Welt arbeiten in Teilbereichen für diesen Frieden. Man sieht sie nicht als Gesamtheit, man hört sie nicht, denn sie haben noch keine gemeinsame Stimme, kein gemeinsames Forum, kein gemeinsames Ziel. Sie erkennen sich noch nicht, aber in ihren Herzen ist etwas lebendig, das irgendwie allen gemeinsam ist.

Sie setzen sich ein für den Schutz von Regenwäldern und Meeren, pflegen verletzte Tiere, geben Kindern ein neues Zuhause, helfen ihren Nachbarn, riskieren ihr Leben für Wahrheit und Gerechtigkeit.
Es gibt so viel Schönheit im Menschen, so viel Mut und Güte. Aber noch können sie nicht zusammenkommen, um mit gemeinsamer Kraft und Kreativität diesen Planeten in ein Paradies verwandeln, anstatt ihn und sich selbst zu zerstören.

All diese Einzelpersonen und Gruppen tragen ein Stück von diesem Paradiesbild in ihrem Herzen. Eine neue Erde: das ist eine Erde, in der wir Menschen strukturell keine Angst mehr voreinander und vor der Natur haben müssen, wo wir nicht mehr im Mangel denken, sondern die Fülle wahrnehmen, die uns umgibt, und die uns alles schenkt, was wir zum Leben brauchen.

Keine Angst heißt auch keine Konkurrenz, keine Eifersucht, keine Machtgelüste, keine Dominanz und Unterdrückung, und vor allem keine Verstellung! Ich stelle mir eine freie Welt immer als eine erotische und liebende Welt vor.

Ich glaube, das angstfreie Zusammenleben unter Menschen ist das Kernstück, aus dem sich neue Konzepte für Ökologie, Heilung, Architektur, Kunst, Technologie und viele weitere gesellschaftliche Bereiche entwickeln werden.

Für mich ist es ein fundamentaler Unterschied, ob ich eine Vision habe oder nicht. Ich kann lange durchhalten, wenn ich weiß, dass ich an einer Utopie arbeite, an der Verwirklichung eines Traumes. Möglicherweise werde ich es nicht erleben, das sich diese Idee manifestiert, aber ich erkenne trotzdem den Sinn meiner Arbeit.

Mein Herz kann aufatmen, sich weiten und da sein für andere. Was für eine Wohltat! Und ich komme nochmal darauf zurück, dass die Vision mir hilft, mich zu entwickeln. Ich kann sozusagen über mich hinauswachsen. Und das fühlt sich gut und kraftvoll an.

Mir ist auch wichtig, dass diese Vision allen gehört. Viele Menschen können daran mitarbeiten und die gleiche Erfahrung machen. Die Vision ist ja nicht nur für einen kleinen Ort im entfernten Portugal gedacht, sondern für die ganze Erde.

Ich arbeite daran auch stellvertretend für diejenigen, die im Moment nicht das große Privileg haben in Frieden zu leben, sondern die um ihr nacktes Überleben kämpfen müssen. In der Vision, von der ich spreche, steckt auch das Wissen, warum und wie sie sich ausbreiten kann, bis dahin, dass das dazugehörende Gedankenfeld des Friedens die ganze Erde umspannt und verändert.


(1) Die globale Befreiung von Angst und Gewalt: Ein Heilungsplan für die Erde, Monika Alleweldt, 2021
(2) Und sie erkannten sich: Das Ende der sexuellen Gewalt, Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels, 2018

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