Jesus sagte laut Bergpredigt: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“ (Mt 5,39). Kann das ernstzunehmen sein – für einen Einzelnen, sogar für einen Staat? Drewermann findet eine erhellende Erklärung.
Eugen Drewermann
Wie ein Friede der Angstüberwindung sich in der Realität ausnimmt, verdeutlicht gerade jenes so irreal erscheinende Jesus-Wort von der anderen Wange (Mt 5,39), wenn wir es uns nur so recht klar machen. Gewiss, man kann bei einer übergriffigen Tätlichkeit, im Fall eines erlittenen Unrechts, «zurückschlagen» und seine Genugtuung darin finden, dem anderen ein Gleiches zuzufügen; statt Frieden entsteht dann ein Kampf um das Recht, das womöglich beide Parteien für sich in Anspruch nehmen. Das heisst: Selbst wenn es dir gelingt, den «Übeltäter» in die Knie zu zwingen, wird sich in seinen Augen doch nur erneut das Recht des Stärkeren bestätigen, und du wirst seine Feindschaft verewigen.
Doch weisst du eigentlich, was er beabsichtigte mit seinem Tun? Weiss er es selber? – Ein Schlag auf die rechte Wange kann nur mit der linken Hand geführt werden, die seit altersher dem Unbewussten zugeordnet wird; wäre es da nicht möglich, dass dein Gegner etwas ganz anderes wollte, als sich in seiner Tat auszudrücken scheint? Geschlagen hat er dich, das stimmt; aber vielleicht meint er in dir jemanden ganz anderen – seinen Vater, seinen Bruder, und er übertrug uralte Gefühle auf dich. Was ging und geht da in ihm vor sich?
Du kannst es nur für ihn oder für dich selbst herausfinden, wenn du den Schlag bewusst, von rechts, sich wiederholen lässt. Du weisst, dass du seine Attacke nicht verdient hast, und wenn du jetzt ruhig und ohne Angst nicht deinen Rachefantasien nachgehst, sondern auf den Angreifer zugehst, klärst du unter Umständen sein mögliches Missverständnis auf; durch dein eigenes Vertrauen machst du ihn zu deinem Vertrauten und eines Tages womöglich zu deinem Freund und Verbündeten; in jedem Fall zeigst du ihm, dass du anders bist, als er geglaubt oder gefürchtet hat. Die todverschattete Welt der Angst bricht auf und öffnet sich dem Licht.
Aus dem Buch: «Nur durch Frieden bewahren wir uns selber – die Bergpredigt als Zeitenwende», Patmos 2023