Terra Nova

Terra Nova Editorial 12.1.2023

Niemand ist weiter von der Wahrheit entfernt als derjenige, der alle Antworten weiß. (Zhuangzi)

Liebes Terra Nova-Netzwerk,

Es geschieht viel am Ende der Welt – wie wir es hier, in der Nachbarschaft von Tamera, manchmal empfinden. Tamera ist im Winter ein äußerlich stiller Ort, ohne Gäste, regnerisch, mild, ruhig. Ich liebe das, es ist ein Retentionsraum für Gedanken und Vorhaben. Wir können sie abwägen, sie in uns bewegen, ohne direkt in die Umsetzung zu gehen. In dieser Stimmung hören wir bewegende Gedanken, treffen inspirierende Persönlichkeiten, die eben doch manchmal zu Besuch kommen, und erfahren von neuen Projekten.
So stellten Martin Winiecki und Anne Bretschneider eine neue Initiative vor. Sie waren gerade in Rajasthan, wo sie den „Wasser-Gandhi“ Rajendra Singh besuchten. Sie sahen mit eigenen Augen die gewaltigen Veränderungen, die ein einzelner Mensch bewirken kann, der es versteht, die Kraft der Gemeinschaft zu entzünden. Rajendra Singh überzeugt seit 40 Jahren Menschen in den Dörfern davon, an vielen tausend Orten dieser ausgetrockneten Landschaft kleine und größere Wasserretentionsanlagen zu bauen. So kann der Regen wieder in die Erde eindringen. Boden wird fruchtbar. Quellen und Flüsse fließen wieder, Wälder wachsen, über tausend Dörfer wurden wieder belebt. Ein Wunder? Aber ein erklärbares. Und können wir dieses Wunder auch an anderen Orten bewirken? In Europa, wo die sozialen, rechtlichen und ökologischen Voraussetzungen so anders sind?
Sehr vieles spricht dagegen. Aber hätte Rajendra etwas bewirkt, wenn er vor 40 Jahren auf die Bedenkenträger gehört hätte?

Das bringt mich zu der Frage, die ich heute bewegen möchte: Wie schaffen es manche Menschen, an Dinge zu glauben, für die es keine Beweise gibt? Einfach weil sie aus dem Rahmen fallen. Wie schaffen sie es, alles zu investieren, um sie zu verwirklichen – entgegen aller „Vernunft“, nur mit ihrem inneren Instinkt?

Ich schicke dir dazu noch einmal den Dialog der Zwillinge im Mutterleib. Ich habe neu hingehört: Der skeptische Zwilling ist sich ganz sicher, alles zu wissen. Immerhin hat er die „Wissenschaft“ hinter sich, die sagt: Noch niemand ist zurückgekommen. Der andere glaubt an ein Leben nach der Geburt. Er „weiß“ nichts Genaues – und doch vertraut er seinem inneren Gefühl.

Ich möchte den Skeptiker ebenso ehren wie den Gläubigen – im Dialog erschaffen sie neue Möglichkeiten. Der Mutterleib, in dem ihr Gespräch stattfindet, ist ein Retentionsraum, wie ich ihn immer wieder uns allen wünsche. Ein seelisch-geistiger Raum für neue Verwirklichungskräfte.
In Bezug auf Wasser-Retentionsräume glaube ich, dass sich die visionäre Fantasie lohnt. Was können all die guten Initiativen zur Ecosystem Restoration bewirken, wenn sie sich verbinden und die ganz normalen Menschen in der Region begeistern! Ich bin gespannt darauf, was für eine Initiative hier in Portugal entsteht – und was wir für Deutschland daraus lernen können. (Im März werde ich über diese Möglichkeit in Berlin einen Vortrag halten – mehr dazu bald.)

Herzlich

Christa


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