Terra Nova

Lass mich das denkende Herz dieser Baracke sein

Aus dem Tagebuch von Etty Hillesum

Das Stück Geschichte, das wir jetzt erleben, kann ich sehr gut ertragen, ohne darunter zusammenzubrechen. Ich sehe genau, was geschieht und behalte einen klaren Kopf. Manchmal freilich ist es, als legte sich eine Aschenschicht über mein Herz. Und dann kommt es mir vor, als würde mein Gesicht vor meinen Augen welken und vergehen, hinter meinen grauen Zügen taumeln Jahrhunderte nacheinander in einen Abgrund, und dann verschwimmt alles vor meinen Augen, und mein Herz lässt alle Hoffnung fahren. Es sind nur Augenblicke, gleich darauf habe ich mich wieder in der Gewalt, mein Kopf wird wieder klar, und ich kann meinen Anteil an der Geschichte tragen, ohne darunter zu zerbrechen. Wenn man einmal begonnen hat, an Gottes Hand zu wandern, ja, dann wandert man weiter, das ganze Leben wird zu einer einzigen Wanderung […]

Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: Ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen […]. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen. Es gibt Leute, es gibt sie tatsächlich, die im letzten Augenblick ihre Staubsauger und ihr silbernes Besteck in Sicherheit bringen, statt dich zu bewahren, mein Gott. Und es gibt Menschen, die nur ihren Körper retten wollen, der ja doch nichts anderes mehr ist als eine Behausung für tausend Ängste und Verbitterung. Und sie sagen: Mich sollen sie nicht in ihre Klauen bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Klauen ist, wenn man in deinen Armen ist. […]

Das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am Abend, wenn der Tag hinter mir in der Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herzen herauf – ich kann nichts dafür, es ist nun einmal so, es ist von elementarer Gewalt: Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen. Und wenn wir unversehrt überleben, körperlich und seelisch unversehrt, aber vor allem seelisch, ohne Verbitterung, ohne Hass, dann haben wir auch das Recht, nach dem Krieg ein Wort mitzureden.

(Aus dem Buch: „Das denkende Herz“ Die Tagebücher von Etty Hillesum)


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