Terra Nova

Freie Sexualität und Partnerschaft

von Dieter Duhm

Du kannst nur treu sein,
wenn du auch andere lieben darfst.

Zuerst einmal will ich klären, was mit freier Sexualität gemeint ist. Es geht um Wahrheit und Vertrauen in der Geschlechterbeziehung, es geht vor allem um Wahrheit im Bereich unseres sexuellen Begehrens. Es geht nicht um wahllose Promiskuität und unverbindliche Beziehungen. Es geht darum, dass Liebespartner sich nicht gegenseitig belügen, wenn sie es auch mit anderen tun. Das ist ein ethischer Imperativ. Wir können keine freie Sexualität verwirklichen, wenn dabei jemand belogen werden muss. Es gibt ethische Gebote, die dies nicht zulassen. Die Kultur der freien Sexualität ist mit diesen Geboten fest verbunden. Wir kennen die Seelenqual eines Partners, der seine sexuelle Beziehung zu einer anderen Person verheimlichen muss. Es ist grausam für alle Beteiligten und für
die Kinder.

Wenn ich früher verliebt war, war ich immer nur in die Eine verliebt. Das kam in meinem Leben öfter vor. Wenn mir im Zustand solcher Verliebtheit jemand etwas von freier Sexualität erzählt hätte, hätte ich ihn für leicht verrückt gehalten, wahrscheinlich wäre ich sogar empört gewesen. Ich wollte nichts wissen von einer so komischen Ideologie.

(Foto: Theaterszene zum Thema Hochzeit – auf einer Liebesschule von Tamera)

Aber freie Sexualität ist keine Ideologie, sondern eine Hilfe für sexuelle Aufrichtigkeit. Ein Angebot für einen ehrlicheren Umgang mit unseren sexuellen Neigungen. Wichtig ist, dass die Erfahrung in einem sozialen und ethischen Milieu des Vertrauens gemacht wird. Niemand darf zur freien Sexualität genötigt werden, das ist absolut klar. Aber wenn Liebespaare merken, dass einer der beiden Partner oder beide sich gern auch für andere öffnen würden, darf dies kein Grund für Verheimlichung, Lüge oder Trennung sein. Freie Sexualität heißt ja nichts anderes als eine Sexualität ohne Angst, ohne Heuchelei, ohne Lüge – und schließlich auch ohne Eifersucht! Eifersucht ist die Quelle schlimmer Dinge. Oft spüren die Kinder, dass sie ihren Eltern nicht mehr ganz vertrauen können. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder in solchen labilen Liebesbeziehungen leben, steht auf einem zerbrechlichen Boden.

Freie Sexualität ist an drei Prinzipien gebunden, ohne die sie niemals funktionieren kann: an Kontakt, Vertrauen und Solidarität. Damit Mann und Frau in ihrem wechselseitigen Verlangen wieder wahrheitsfähig werden und nicht mehr heimlich schwindeln müssen, brauchen sie Kontakt, Vertrauen und Solidarität. Das ist eine Menge. Kontakt bedeutet, dass wir die Seele des anderen sehen und nicht nur seinen Leib. Vertrauen bedeutet, dass wir uns nicht mehr belügen, auch nicht heimlich. Solidarität bedeutet, dass Mann und Frau sich solidarisch begegnen, in aufrichtiger Freundschaft und Kooperation, ohne Verurteilung und Ironie. Diese Voraussetzungen sind in der bestehenden Welt meistens nicht gegeben. Es bleibt uns deshalb nichts anderes übrig, als neue Systeme zu entwickeln, in denen es wieder möglich wird, unser Leben an den menschlichen Grundwerten zu orientieren. Wir brauchen ein System des menschlichen Zusammenlebens, in dem sich die Menschen wieder vertrauen können.

Ein System, in dem Lüge und Betrug keinen evolutionären Vorteil mehr bieten. Ein System, wo die sexuelle Beziehung eines Menschen zu einem anderen in einem Dritten keine Angst und keinen Hass mehr hervorruft. Wie lösen wir den scheinbaren Widerspruch zwischen freier Liebe und Zweierliebe, zwischen freier Sexualität und Partnerschaft? Da ist tatsächlich ein reales Problem, denn wir Menschen wollen nicht nur freie Sexualität, wir wollen oft auch eine stabile und dauerhafte Partnerschaft, „bis dass der Tod euch scheide“. Plötzlich stehen wir vor einem scheinbar unlösbaren Konflikt: dem Konflikt zwischen dem neuen Bild der freien Sexualität und dem alten Archetyp der Ehe. Das archetypische Bild der Ehe, der ewigen Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau sitzt tief in der menschlichen Seele. Wir alle kennen es, und in uns allen existiert eine Sehnsucht in dieser Richtung. Jede Sehnsucht wartet auf Erfüllung; es gäbe die Sehnsucht gar nicht, wenn es nicht auch eine Erfüllung gäbe, denn unsere Sehnsüchte sind nicht beliebig. Wenn eine Gemeinschaft ganz auf freie Sexualität setzt und dabei diese tiefe Sehnsucht ignoriert, dann wird sie ganz sicher scheitern. Wir können hier die dialektische Theorie von Hegel anwenden: These-Antithese-Synthese. Die These war die Ehe. Die Antithese war die freie Sexualität. Die Synthese ist ein neues System, in welchem These und Antithese auf höherer Ebene aufgehoben oder vereinigt sind. Wir arbeiten seit einigen Jahrzehnten daran, diese
Synthese zu finden.

Viele Menschen, die in diesem Projekt durch Dick und Dünn gegangen und dabeigeblieben sind, spüren jetzt den „dritten Weg“ und die reale Möglichkeit, das eine zu gewinnen, ohne das andere zu verlieren. Langsam verstehen sie den Satz, der ganz am Anfang des Projektes stand und in allen unseren Veröffentlichungen wiederholt wurde: Freie Sexualität und Partnerschaft schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander. Wer in einer festen Beziehung lebt, braucht keine Angst zu haben, wegen anderer Sexualkontakte den Partner zu verlieren. Und wer in freier Sexualität lebt, braucht keine Angst zu haben, das Glück einer festen Partnerschaft zu verpassen. Alle diese Konflikte existieren nur in unserem Kopf, nicht in der Logik der Dinge. Denn die beiden Dinge – Ehe und freie Sexualität – ergänzen sich, sie gehören zusammen und bilden zusammen das Wesen einer neuen erotischen Kultur. Aber sie passen nur zusammen unter bestimmten sozialen und ethischen Voraussetzungen. Der scheinbare
Widerspruch zwischen freier Sexualität und Zweiersexualität ist nur auf einer höheren Ordnungsebene auflösbar.

Was ist die höhere Ordnungsebene? Es ist mit einem Wort: die Ebene des Vertrauens. Solange das Misstrauen zwischen den Geschlechtern besteht, ist der Widerspruch nicht auflösbar. Sobald wirkliches Vertrauen entsteht, ist er bereits aufgelöst, denn es ist selbstverständlich, dass beide Partner immer wieder Lust auf andere haben, und es ist auch selbstverständlich, dass eine echte Liebesbeziehung nicht daran zerbricht. Ich wünsche allen Paaren, die von weither nach Tamera kommen, dass sie diese Selbstverständlichkeit finden und verstehen. Eifersucht gehört nicht zur Liebe. Wir brauchen eine Weile, um uns von den alten Konditionierungen zu lösen. Und doch ging es bei den meisten Mitarbeitern überraschend schnell. Wenn die beiden Geschlechter sich ganz frei zu ihren polygamen Freuden bekennen können, dann können sie ebenso frei ihre Partnerschaft aufbauen, denn sie haben das heimliche Misstrauen ausgelöscht. Wenn sie auf gelegentliche Seitensprünge ihres Partners nicht mehr mit Eifersucht reagieren, beginnt ihre sexuelle Liebe zueinander auf neue Weise zu wachsen. Wenn einer von ihnen in einen Konflikt gerät, können wir ihm oder ihr nur sagen: Folge der Liebe!

„Freie Sexualität“ ist ein Kulturbegriff, keine onanistische Phantasie. Mit der sexuellen Befreiung ist noch nicht das ganze Geschlechterthema gelöst, aber wir haben einen inneren Bremsklotz aus dem Weg geräumt und können weitergehen auf dem Weg der Liebe und des Vertrauens. Um Vertrauen zwischen den Geschlechtern herzustellen, brauchen wir eine Lebensordnung, welche allen Beteiligten ein freies, unverlogenes Sexualleben ermöglicht.

Pornografische Obsessionen von Gewalt und Unterwerfung lösen sich meistens im Feld der befreiten Sexualität von selbst auf, indem wir kontaktfähig werden.

„Freie Sexualität“ war schon ein Stichwort in der großen ‘68er Revolte des vorigen Jahrhunderts. Wir brauchten dieses Stichwort, um den Gedanken der äußeren Revolution mit einer inneren Revolution zu verbinden. Aber wir konnten das emanzipatorische Ziel noch nicht erreichen, weil wir noch nicht sehen konnten, welche inneren ethischen und geistigen Bedingungen erfüllt sein müssen, um zu einem wirklich humanen und befreiten Sexualleben fähig zu werden. Die sexuelle Befreiung scheiterte an den inneren Mächten von Herrschaft, Konkurrenz und Eifersucht. Als die Bewegung zerfiel, kehrten die meisten Genossen in ihre Privatsphären zurück und führten ihre Liebesbeziehungen und Ehen wie alle anderen auch.

Die Kultur der freien Sexualität ist eine Kultur ohne Lüge, ohne Erniedrigung und Gewalt. Sie kann nur auf einer festen Vertrauensbasis funktionieren. Die Geschlechter lernen es, sich von den alten Vorurteilen und Projektionen zu lösen und zueinander in ein absolut ebenbürtiges, partnerschaftliches Verhältnis einzutreten. Sie begegnen sich auf gleicher Augenhöhe. Das ist keine formale „Gleichberechtigung“ und keine Gleichmacherei, sondern die Einsicht in einen Bauplan des Lebens, wo das Weibliche und das Männliche ohne falsche Angleichung im Gleichgewicht sein müssen, damit das Ganze harmonisch funktionieren kann.

Die Einheit der Gegensätze („coincidentia oppositorum“) ist nur dann gegeben, wenn sich beide Pole mit der gleichen Kraft begegnen und verbinden. Das Wissen von diesem Gesetz ergibt sich nicht aus Büchern, sondern aus einer Lebenspraxis und einer Ethik, die keine Unterordnung oder Überordnung mehr zulässt. Die Emanzipation der Frau geht Hand in Hand mit der Emanzipation des Mannes und umgekehrt. Es war erstaunlich, mit welcher Freiheit und Freude die meisten Frauen von der Möglichkeit der freien Sexualität Gebrauch gemacht haben und es weiterhin tun. Für manche Männer war das keine leichte Erfahrung, wenn sie sahen, wie gern ihre Partnerinnen mit anderen gingen. Die sexuelle Emanzipation der Frau stellt ganz unmittelbare Anforderungen an die Emanzipation des Mannes, vor allem an seine Kontaktfähigkeit.

Es ist eine Frage des Kontakts, ob du glücklich oder unglücklich bist. Freie Sexualität ohne diesen speziellen liebenden Kontakt trägt nicht viel zum Glück bei. Sie braucht als Basis den vertrauenden Kontakt. Die neue Kultur ist weder patriarchal noch matriarchal, sondern partnerschaftlich.

Auszug aus: Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels: „Und sie erkannten sich. Das Ende der sexuellen Gewalt.“ Okt. 2018 im Verlag Meiga. 

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