Terra Nova

Terra Nova Editorial vom 14.10.2021

„Wir bleiben dabei, unser Potential zu unterschätzen, wenn wir vor der Negativität wegrennen.“
Ilan Stephani (ihr neues Video über „Die Schattenseiten von Licht und Liebe“ hier)
                                                                                                                                                                                                                                    

Liebe Freunde und Freundinnen,
 
Es gibt nicht nur Liebe unter Menschen. Und nicht nur Schatten. Erwachsen werden heißt, das zu differenzieren – und uns selbst zu entscheiden.
Meine Mutter wäre heute 100 Jahre alt geworden. Mütter! Die meisten Menschen verherrlichen oder verfluchen sie. Auch in meinem Leben liegen bei keinem anderen Menschen Liebe und Schatten so eng zusammen: Sie war Geborgenheit und Gefängnis gleichzeitig,
emotionale Heimat und Taktgeberin der ganzen Familie. Hatte sie Schwung und gute Laune, ging es uns allen gut, wir fühlten uns geborgen. Wenn nicht, schlich jeder tapfer um sie herum, um ihrem vorwurfsvollen Selbstmitleid zu entkommen. Papa war in meiner Erinnerung immer irgendwo im Hintergrund, nicht sichtbar oder hörbar oder schlicht nicht da. Auf ihn konnte ich alle Wünsche und Fantasien legen, mit Mama musste ich mich direkt auseinandersetzen. Mein Wunsch, möglichst bald auszuziehen, war auch der Wunsch, ihrem Einflussbereich zu entkommen. Meine Mutter musste im Leben erst alles verlieren, bevor ich sie im Alter als ganzen Menschen wahrnehmen konnte – mit eigenen Charaktereigenschaften und Träumen, mit großer Hingabe und ebenso großer emotionaler Gewalt – und ihr vergeben konnte. Damit begann auf ihre letzten Jahre so etwas wie eine vorsichtige Freundschaft, ich war froh, ihr auch etwas geben und von mir mitteilen zu können, sie ist ein Mensch geworden, der in meinem Herzen weiterlebt.
Kommt dir das bekannt vor? Was für einen Stellenwert hat oder hatte deine Mutter für dich? Wie ehrlich kannst du fühlen, wo sie dich mit ihrer emotionalen Kraft prägte, dominierte, dir Heimat gab, dich aufbaute oder brach?  Was kannst / konntest du ihr davon mitteilen? Und kannst du sie sehen, wo sie selbst Tochter war, von einer Mutter geprägt, dominiert, aufgebaut oder gebrochen wurde? Kannst du ihr vergeben?
Die meisten von uns wurden durch die emotionale Dominanz ihrer Mütter geprägt – und durch die Abwesenheit der Väter. Ich glaube, die Beziehung zu unseren Müttern zu klären, gehört zu unseren Lebensaufgaben, um frei liebende Menschen zu werden. Für mich bedeutet es, hinzuschauen: Mütter sind nicht entweder Göttinnen oder Monster. Sie sind – meistens – beides. Als Erwachsene haben wir die Möglichkeit, das zu differenzieren und anzuerkennen. Liebe ist die Möglichkeit, einen Menschen ganz und immer vollständiger zu sehen und zu fühlen.
Am Morgen ihres Todes – ich hatte die Nachricht noch nicht erhalten – träumte ich, dass sie mich fragte: „War ich eine gute Mutter?“ Ich überlegte und antwortete: „Ja.
Ich fühlte mich durch deine Überfürsorge oft erdrückt. Aber du hast uns bei allem eine stabile Heimat gegeben und deinen Job gut gemacht.“ Ich stelle mir vor, dass sie mit dieser Einschätzung auf eine gute Heimreise gegangen ist.
Ich wähle diesmal einen Text, der nicht aus der geistigen Werkstatt von Tamera stammt, sondern von Samuel Widmer, einem inzwischen verstorbenen Gemeinschaftsgründer und Therapeuten. Er hat berührende Dinge zum Thema Einlassen, Beziehung und Liebe gesagt, die ich mit dir teilen will.
 
Alles Gute!
Christa Leila
 
P.S.: Im November laden wir zu zwei Treffen ein: Das Terra-Nova-Netzwerktreffen bei Fulda und das Tamera-Friedenssymposium bei Berlin. Ich freue mich darauf, dich bei einem der Treffen kennenzulernen!
 

 
Aktuelle Beiträge im Online-Magazin terra-nova.earth

 

 


Liebe im Allerinnersten

Von Samuel Widmer

Wenn uns die Liebe begegnet, merken wir rasch, dass wir sie nie wirklich kennen, dass wir uns lediglich für sie öffnen, sie aber nie besitzen können. Sie gehört nicht uns, wir gehören eher ihr. Wir haben Anteil an ihr, können in ihr aufgehen, aber wir sind ausgeliefert an sie oder positiver ausgedrückt: aufgehoben in ihr; sie ist die Kraft, die das Ganze lenkt, nicht wir. Manchmal ist sie da und dann ist sie wieder weg, vor allem wenn wir sie festhalten, einzäunen wollen; und wir merken immer wieder, dass wir nichts dazu tun können, damit sie wiederkommt. Wir können uns öffnen für sie, bereithalten für sie, aber dass sie kommt, liegt in ihrer Macht, nicht in der unseren. Sie lädt uns ein, nicht wir sie.

Liebesbeziehungen entstehen erst, wenn die Einsamkeit des Herzens akzeptiert und überwunden ist und wir uns nicht auf der Flucht vor ihr, sondern aus ihrem Wesen heraus treffen.
Ganz JA sagen, heißt ganz JA sagen zu sich selbst, zu seiner eigenen Liebe, wohin immer sie sich wenden will, das heißt Ja sagen zu der Situation, in der ich gerade stehe und zu allen Wandlungen, die sich erfährt.
Was Beziehung zerstört, ist das Besitzdenken, das in der egozentrisch ausgerichteten Gesellschaft alles dominiert. Besitzen, einander besitzen in Beziehung, das Besitzen überhaupt. Da gibt es nichts; ohne dies gibt es kein Sterben am Sterbepunkt, keine Entwicklung über die egozentrische Persönlichkeit hinaus. Kontrolle muss enden, die Illusion der Trennung muss überwunden werden. Alles Mein und Dein muss ein Ende haben, sonst gibt es kein Erwachen für die Ebene des einen Herzens, kein Aufgenommenwerden im einen Geist. Nicht zu besitzen, ist eine innere Haltung.
Ganze Beziehung: Ganz wird sie, wenn du und ich darauf verzichten eine Wahl zu haben, die Wahl eventuell wegzugehen, wenn es dir nicht mehr gefällt, wenn du in jedem Fall dran bleibst, auch wenn das eintrifft, was du am meisten fürchtest, die Wiederholung dessen was du nicht mehr wieder erleben wolltest, der Gefühle deiner Kindheit, des Ausgeliefertseins an etwas unerträglich Schreckliches. Das heißt genau auf das zu verzichten, was dir damals das Überleben sicherte, die Wahl zu haben, ob du es fühlen willst oder nicht; und das heißt heute: Weggehen zu können oder eben nicht.

 

Aus Wikipedia: Paul Samuel Widmer Nicolet (* 24. Dezember 1948 in Zuchwil;[1] † 18. Januar 2017 in Lüsslingen-Nennigkofen[2]) war ein Schweizer Arzt, Psychiater, Psychotherapeut und Autor. Er war Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (FMH), tätig in eigener Praxis und lebte sowie arbeitete in Lüsslingen-Nennigkofen in der Nähe von Solothurn. Seine Methoden sind umstritten.

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