Terra Nova

Aufbau funktionierender Gemeinschaften

Von Dieter Duhm

Der ursprüngliche Mensch ist wie wahrscheinlich jedes Lebewesen ein Gemeinschaftswesen. Was der Mensch zum Leben braucht, findet er in der Gemeinschaft. Vor allem die ursprünglichen ethischen und spirituellen Qualitäten des Lebens findet er in einem gesunden Gemeinschaftsleben. Durch den historischen Zusammenbruch der Gemeinschaft verlor die menschliche Seele ihren Anker. Der Versuch, die menschliche Gemeinschaft neu aufzubauen, ist ein historisches Experiment von großer Bedeutung. Wir stoßen dabei auf das verinnerlichte Trauma der Geschichte. Deshalb sind die meisten Versuche bis heute gescheitert. Vielleicht ist nichts schwerer als der Aufbau funktionierender Gemeinschaften. Aber genau dies ist die historische Aufgabe unserer Zeit. Was im vorigen Jahrhundert, etwa zu Zeiten von Monte Verita bis zu den Hippie-Zeiten der Sechziger Jahre, vielleicht noch als romantisches Abenteuer galt, von dem man abends am Lagerfeuer träumte, wurde in Wirklichkeit die Gretchenfrage der menschlichen Zivilisation: Wie haltet ihr es mit der Gemeinschaft?

Die Biologin Lynn Margulis schrieb: „Wenn wir die ökologischen und sozialen Krisen, die wir herbeigeführt haben, überleben wollten, wären wir wohl gezwungen, uns auf völlig neue, dramatische Gemeinschaftsunternehmen einzulassen.”

Und an dieser Aufgabe kommt wohl niemand vorbei, der das historische Schlüsselthema unserer Zeit verstehen will.

Gemeinschaft ist kein sentimentaler Traum junger Menschen, sondern sie ist die nächste Stufe der Evolution.

Die Menschen der Zukunft werden in Gemeinschaften leben. Seit den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Tausende von Gemeinschaften gegründet, aber kaum eine davon hat überlebt. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, welche die Menschen zusammengeführt hatte, scheiterte an inneren zwischenmenschlichen Konflikten.

Vor allem das Thema Nummer Eins konnte noch nicht gelöst werden und führte regelmäßig zu inneren Turbulenzen, an denen schließlich die Gruppe scheiterte. Um eine funktionierende Gemeinschaft aufzubauen, braucht man ein geistiges Konzept und sehr entschlossene Menschen, die wissen, was sie tun. Denn mit dem Eintritt in die Gemeinschaft vollziehen wir einen kompletten Systemwechsel von einer privaten in eine kommunitäre Biografie, das ist ein Wechsel des inneren „Montagepunktes” (Castaneda).
Wir betreten ein neues Lebenssystem, eine neue Ethik und eine neue Basis für die Bearbeitung unserer menschlichen Konflikte.

Gemeinschaft ist ein historisches Thema, verbunden mit einer Neukonditionierung der menschlichen Innenwelt! Es ergeben sich neue Lösungsmöglichkeiten für die ewig ungelösten Probleme um den ganzen Bereich von Sex, Liebe und Partnerschaft. Kein Mensch, der in einer funktionierenden Gemeinschaft lebt, wird an Eifersucht oder Liebeskummer zugrundegehen, denn er oder sie ist anders verankert.

In einer funktionierenden Gemeinschaft entfallen die alten Notwendigkeiten der gegenseitigen Tarnung. Menschen, die sich nicht mehr voreinander tarnen müssen, werden sich gegenseitig erkennen und unterstützen. Mensch erkennt den Menschen. Mann erkennt Frau, und Frau erkennt Mann. Wahrheit, Treue, gegenseitige Unterstützung und verantwortliche Teilnahme für das Ganze sind Grundmerkmale der kommunitären Ethik. Wir können die neuen Menschen daran erkennen, wie verbindlich sie an diesem Kodex teilnehmen. Verstellung, Lüge und Betrug haben keinen Sinn mehr in einer Gemeinschaft, die auf das Wohl aller gerichtet ist.

Das Vertrauen ist die Macht, welche die alten Sperren durchbricht. Durch die Auflösung zwischenmenschlicher Minenfelder verschwinden im seelischen Untergrund die Ursachen für Angst und Gewalt. Die Zukunft ohne Krieg beginnt mit der ersten funktionierenden Gemeinschaft.
„Gemeinschaft” – ein leichtes Wort und ein schweres Thema. Aber eigentlich nicht schwerer als der Aufbau einer funktionierenden Firma. Der Unterschied besteht nur darin, dass es für den Aufbau einer Firma bereits ein morphogenetisches Feld gibt, für den Aufbau einer funktionierenden Gemeinschaft hingegen noch keines. Es muss erst erschaffen werden. Und hier liegt ein Schlüssel für Erfolg oder Misserfolg der ganzen Friedensbewegung.

Zum morphogenetischen Feld einer funktionierenden Gemeinschaft gehört eine Antwort auf ein Geschlechterthema, welches bisher noch nicht gelöst werden konnte: Wie können die sexuellen Wünsche nach verschiedenen Partnern verbunden werden mit der Sehnsucht nach Partnerschaft mit einem Menschen? Hier braucht die Welt, brauchen wir alle eine Antwort. Diese ergibt sich nicht auf psychologischer und therapeutischer Ebene, sondern aus einer neuen Einordnung des menschlichen Lebens in die universelle Ordnung der Gemeinschaft.

Um zuverlässige menschliche Beziehungen aufbauen zu können, welche alle unvermeidlichen Konflikte durchstehen, brauchen wir eine neue Basis der Wahrheit.

Was ist Wahrheit? Wahrheit bedeutet auf jeden Fall, dass man die Wahrheit sagt und nicht lügt. Das ist, wie wir gesehen haben, schon eine Menge. Aber Wahrheit reicht noch weiter und tiefer: Wahrheit ist die Übereinstimmung meiner Worte und Gedanken mit dem, was tatsächlich im Inneren geschieht.

Hier liegt das Problem.

Wenn eine Gruppe zusammenkommt, um über eine Sache, z.B. die Einfassung einer Quelle, zu diskutieren, dann können verschiedene Meinungen aufeinanderstoßen, es entstehen vielleicht Missverständnisse, Vorwürfe und Aggressionen bis zu offener Wut. Wenn man hineinschaut in die wirklichen Abläufe, dann sieht man, in welchem Maße unverdaute Eigenprobleme der Beteiligten, unterbewusste Ödipus- oder Autoritätskonflikte, Machtkämpfe etc. am Werk sind. Man streitet über vermeintliche Sachprobleme, wo in Wirklichkeit psychische und zwischenmenschliche Konflikte liegen. Man widerspricht voller Leidenschaft einem Gruppenteilnehmer, nur weil der gestern Abend die Frau geküsst hat, die man selbst gern geküsst hätte.

Viele Gespräche scheitern an der Vermischung von Sachproblem und Egoproblem. Ich habe erlebt, wie ein Teilnehmer mit großer Betroffenheit sagte, dass es dem Wasser weh tue, wenn es in einem solchen Steinbecken aufgefangen würde. In Wirklichkeit lag der Schmerz mit Sicherheit nicht auf der Seite des Wassers, sondern des Menschen. Subjektive Vorgänge werden in die objektive Welt projiziert und auf diese Weise verdrängt. Jeder „normale” Mitbürger würde sich an dieser Stelle wehren, wenn wir ihm sagen würden, dass es sich um sein eigenes Problem handelt und nicht um das des Wassers. Aber in einer Vertrauensgemeinschaft müssen derartige Konflikte durchschaut und aufgelöst werden.
Wir befinden uns in einer Entwicklung, die noch lange nicht zu Ende ist. (…)

Wir möchten an dieser Stelle allen entstehenden Gruppen raten: Verzichtet auf zu frühe Grundsatzentscheidungen und Dogmen, die leicht zu Fanatismus und Intoleranz führen. 

Die anstehenden Themen sind oft so komplex, dass keine schnelle Antwort möglich ist. Das Leben ist eine sich enthüllende Vision, und: „Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt” (Wilhelm Busch).

Aus dem Buch: Terra Nova – Globale Revolution und Heilung der Liebe

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