Terra Nova

Entscheidung für das Leben

Brigida

Brigida Gonzales, Kolumbien

San José liegt bei Apartadó, einer Hauptstadt der Bananenagroindustrie in Urabá, in einer strategisch wichtigen und rohstoffreichen Region Nord-Kolumbiens. Die Friedensgemeinde ist eine 1997 von Kleinbauern gegründete neutrale Zone mit anfangs 1300 Mitgliedern. Mit Gewaltfreiheit, Gemeinschaftssinn und internationaler Hilfe trotzte sie den langjährigen Vertreibungsversuchen. Doch in den 21 Jahren seiner Existenz wurden fast 300 Bewohner umgebracht. Die Mörder stammen aus bewaffneten Gruppen aller Richtungen: Paramilitär, Armee und Guerilla. Inzwischen werden die Methoden subtiler. Willkürliche Verhaftungen, Verleumdungen, Lebensmittelblockaden. Doch das Beispiel der Friedensgemeinde von Mut, Widerstand und Wille zur Vergebung strahlt weit über ihr Land hinaus als Leuchtturm der Hoffnung. Dona Brigida, 67, Bäuerin, Malerin, Mutter und Großmutter, war eine der Mitgründerinnen. Sie erzählt aus ihrer bewegten Lebensgeschichte.

Mein Herz ist in mehrere Teile zerbrochen. Ein Teil ist in Kolumbien, einer in Syrien, einer in Palästina, einer in Iran und einer im Irak – denn in all diesen Ländern herrscht Krieg. Es ist schwer, Frieden zu schließen, wenn das Herz so verwundet ist. Deshalb versuchten wir in aller Bescheidenheit als einfache Bauern, in unserer Gemeinschaft immer der Vergebung zu folgen. Wir üben uns darin, unseren Feinden nicht mit Hass, sondern mit Solidarität zu begegnen. Denn nicht nur die Gewalt erleiden, sind Opfer, auch die Täter sind Opfer. Wir beten für die Heilung der Wunden auf allen Seiten. Ihr fragt, wie ihr der Friedensgemeinde helfen könnt. Wir brauchen menschliche Begleitung. Seid mit uns in euren Gebeten, aber kommt auch zu uns und lebt mit uns. Das ist unser größter Schutz.

 

Ich stamme aus Antiochia, später zog die Familie nach Urabá, immer auf der Suche nach Arbeit als Kleinbauern. Mit 18 Jahren zog ich von zu Hause aus und begann, in Jugendorganisationen mitzuarbeiten. Ich fand, der Mensch ist nicht für das Allein-Sein gedacht, wir sollten uns zusammenschließen. Ich entdeckte damals auch die Kunst; mit Malerei drückte ich den Wunsch nach Solidarität unter allen Menschen aus. Damals schon wurden alle Arten von Bewegungen von Arbeitern und Kleinbauern mit Gewalt verfolgt. Paramilitärische Gruppen wurden seit 1962 durch Militärspezialisten aus den USA und Israel unterstützt und trainiert. Die Arbeit der „Schwarzen Hand“ und „Todessschwadronen“ war es, Linke und Gewerkschafter zu bedrohen und verschwinden zu lassen. Sie waren überall unterwegs, doch irgendwie war ich damals immun gegen Angst. Kunst blieb mein größtes Interesse; denn durch Kunst konnte ich immer ausdrücken, was ich wirklich dachte und sah.

Ich arbeitete in den großen Bananenplantagen und bekam meine ersten Kinder. Ich wurde als Sprecherin der Arbeiter gewählt, denn ich war immer eine Kämpferin für ein Leben in Würde. Frauen und Männer sollen in Freiheit und gleichberechtigt arbeiten und nicht als Sklaven eines Großgrundbesitzers. Wir wollten lieber freie Kleinbauern mit eigenen Felder sein, Bananen und Kakao anbauen und die Produkte selbst verkauften. Immer mehr taten das auch und zogen in die Berge rings um San José. Das mochten die Besitzer der Großplantagen überhaupt nicht.

1985 breitete sich überall in Kolumbien eine neue Hoffnung aus: die Union Patriotica, kurz UP, ein übergreifender Zusammenschluss aller linken Kräfte. Sie hatte Zulauf im ganzen Land. Aber dann begann die Regierung, deren Mitglieder gnadenlos zu verfolgen. In Schulen, Gewerkschaften, auf der Straße, in Bussen, überall rund um Apartadó begann ein großes Morden. Sehr viele unserer Freunde und Genossen „verschwanden“. Alle großen Unternehmen, Plantagenbesitzer, Konzerne und Drogenkartelle beteiligten sich an der Verfolgung. Viele tausend Menschen flohen, die einen vom Land in die Städte, andere flohen aus den Städten aufs Land.
Trotz allem gaben wir nie die Hoffnung auf ein besseres Leben auf. Wir hatten durch unser politisches Erwachen ja erst erfahren, dass wir als einfache Menschen das Recht hatten, freie Bauern zu sein. Amnesty International und das Rote Kreuz haben uns damals unterstützt. Die UN wollte uns dazu bewegen, die Region zu verlassen. Das aber konnten wir uns nicht vorstellen. Zu viele unserer Genossen hatten dafür schon ihr Leben gelassen. Und wir hätten uns lieber umbringen lassen, als unser erstes eigenes Land aufzugeben.

1997 beschlossen wir, die Ebenen des politischen Kampfes zu wechseln. Eine Friedensgemeinschaft, die sich aus den Konflikten heraushält, das sahen wir als die einzige Möglichkeit, auf unserem Land zu bleiben und zu überleben. San José de Apartadó, einem Ort, in den viele vertriebene Kleinbauern geflohen waren, wurde zu einem Sammelpunkt der Verfolgten. Im März 1997 gaben sich über tausend Menschen hier eine Satzung, verzichteten auf jegliche Gewalt und erklärten uns zur Gemeinschaft. Gemeinsam wollten wir unsere Felder bestellen und uns gegenseitig schützen.

Gegen mich wurden damals Todesdrohungen ausgesprochen. Als ich mit meinen Kindern auf dem Weg nach San José war, um mich der entstehenden Friedensgemeinde anzuschließen, warnten mich zwei Embera-Indianer auf der Strecke, dass ich dort umgebracht würde. Auch sie hatten viele Menschen durch die Verfolgung verloren. Trotz der unterschiedlichen Lebensweise wuchs eine Solidarität zwischen ihnen und den Kleinbauern, die bis heute anhält. Der Vater meiner Kinder lebte damals in einem ihrer Dörfer, und auch ich wurde jetzt dort aufgenommen. Meine Kinder blieben erst einmal dort und lernten vieles, das man nirgendwo anders lernen kann. Ich selbst wanderte vorsichtig weiter nach San José, um zu schauen, wie die Situation war. Das war mein Einstieg in die Friedensgemeinschaft.

Für mich war immer klar, dass ich meinen Kampf für ein besseres Leben ohne Gewalt führen müsste. Nur ein einziges Mal in meinem Leben wollt ich zu einem Gewehr greifen. Das war, als meine Tochter erschossen wurde. Sie war damals mit anderen Jugendlichen auf einer Tanzveranstaltung und geriet in einen Schusswechsel. Sie war 15 Jahre alt. Damals dachte ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, dann wäre das jetzt der Moment, zu den Waffen zu greifen. Aber das kam aus meinem Schmerz. Als ich wieder nachdenken konnte, habe ich gemerkt, ich habe ja nicht nur diese Tochter. Ich habe ja noch meine anderen Kinder, die mich brauchen. Heute bin ich sehr froh, dass ich den Weg der Gewaltlosigkeit gegangen bin, den Weg der Gemeinschaft. Waffen machen Frieden unmöglich. Die Regierung hätte am liebsten, dass wir uns bewaffnen, denn damit würden wir ihr einen Grund geben, uns auszulöschen. Aber mit gewaltfreiem Widerstand können sie nicht wirklich umgehen.

In der Gemeinschaft waren viele Frauen allein mit ihren Kindern, weil ihre Männer umgebracht worden waren. Intakte Familien waren die Ausnahme. Wir gründeten Arbeitsgruppen und Kollektive, mit denen wir gemeinsam auf den Bananenplantagen arbeiten. Wir legten Gärten an und halten gemeinsam Hühner für unsere Selbstversorgung. Auch die Kakaoplantagen pflegen wir gemeinsam und bieten heute organisch angebauten Kakao an. Uns wurden Geld und Lebensmittel gestohlen, viele wurden umgebracht, aber die Friedensgemeinde ist immer noch da. Die Kinder lernen von kleinauf, was es heißt, sich als Campesinos auf ihrem Land zu behaupten. Die Bauern gehen in kleinen Gruppen auf ihre Felder, niemals allein, um sich gegenseitig zu schützen. An einem Tag der Woche gibt es einen Gemeinschaftstag, wo alle zusammen arbeiten. Die Solidarität im Friedensdorf ist unsere größte Überlebenskraft.

Solange die kriminellen Strukturen bis in alle Bereiche der Regierung reichen, unterstützen wir diesen Staat nicht. Die einzige Wahl, an der wir uns beteiligen, ist die Wahl unseres internen Rates. Wir haben eigene Schulen und eine eigene Gesundheitsversorgung, denn wir wollen weder unsere Kinder, noch unsere Kranken einem System anvertrauen, das uns so aktiv verfolgt.
Und immer noch ist die Kunst meine Haupt-Arbeit, mit meinen Bildern bewahre ich die Geschichte der Friedensgemeinschaft. Mittlerweile hängen meine Bilder im nationalen Museum in Bogotá.

Seit dem so genannten Friedensvertrag ist keineswegs Frieden eingekehrt. Die paramilitärischen Einheiten sind aktiver denn je. Sie sind in die Nischen gegangen, die die Guerilla verlassen haben. Oppositionelle werden bedroht und umgebracht, Bauern von ihrem Land vertrieben. Vor ein paar Monaten drangen drei Jugendliche des Paramilitärs, bewaffnet mit einer Pistole, in unser Dorf ein und versuchten, unsere Sprecher zu erschießen. Wir konnten sie entwaffnen und festhalten und haben sie der Polizei übergeben, die sie aber gleich wieder frei ließ. Statt unsere Anzeige aufzunehmen, beschuldigten sie uns der Freiheitsberaubung. Wir sind das gewöhnt: eine große Verdrehung der Tatsachen.

Bisher hat jede neue Schwierigkeit uns stärker gemacht. Auf jede Bedrohung haben wir mit größerer Autonomie geantwortet. So entstanden eine solare Stromversorgung, eine Gemeinschaftsküche, eine kleine Kakaofabrik – und 2005 nach einem Massaker an unserem Sprecher und seiner Familie haben wir flussabwärts ein ganz neues Dorf gebaut – San Josecito. Wir haben Freunde in vielen Teilen der Erde, die uns unterstützen.

Die Kleinbauern in Kolumbien waren immer in Gefahr, von Großgrundbesitzern, von Paramilitär, von Guerillas und auch normaler Armee angegriffen, vertrieben und ermordet zu werden. Vergeben heißt nicht vergessen. Denn wenn wir das Vergessen zulassen, ist es, als hätten unsere Kinder oder Freunde nie gelebt. Die gemeinsame Erinnerung an unsere Toten ist deshalb Teil unseres Widerstandes. Aber niemals Rache, denn damit dreht sich die Spirale der Gewalt immer weiter.

Die Gemeinschaft macht weiter. Wie Eduar (der verstorbene Sprecher der Friedensgemeinde, Eduar Lanchero) immer sagte: „Wenn wir in Gemeinschaft leben, können wir die Welt verändern.“ Die Zukunft entsteht nicht gestern, sie entsteht heute und mit dem, was hier heute tun.

Aus dem Buch: Defend the Sacred. Wenn das Leben siegt, wird es keine Verlierer geben. (Verlag Meiga)

In Europa sind zwei Vertreter der Friedensgemeinde das nächste Mal zu Pfingsten: beim Pfingstsymposium in Schrems. 

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