Terra Nova

Jorge

von Jumana Mattukat

Kursteilnehmerin von „Kontakt:Mensch, Tier, Natur“ teilt ein Erlebnis mit Mücken. 

Die Stechmücke Luisa war sehr aufgeregt. Zum ersten Mal durfte sie heute Nacht mit zur Schmausesause und ausgerechnet zur Nachbarfinca, wo seit einigen Tagen die deutsche Familie Urlaub machte. Ihr großer Bruder Fernando hatte ihr schon die Nase lang gemacht und ausgiebig vorgeschwärmt vom außergewöhnlichen Geruch der beiden großen und der beiden kleinen Menschen.

Des Öfteren waren Besucher aus diesem Land namens Deutschland auf der Finca zu Gast. Sie alle hatten diesen ganz bestimmten Geschmack – Fernando bemühte sich, ihn ganz besonders genau zu beschreiben. Ja, am treffendsten war wohl eine Mischung aus Vollkornmehl und Körnern. Das kam ihm wohl am nächsten. In der Schule hatten Luisa und er gelernt, dass dies an dem außergewöhnlichen Brot der Deutschen lag.

Nirgendwo auf der Welt wurde solch ein Brot gebacken. Dieses Mehlwasserhefegemisch musste wirklich etwas Besonderes sein, denn egal wie begeistert die Urlauber von Spanien, der Finca und dem leckeren spanischen Essen waren.

Irgendwann, man konnte darauf wetten, meist in den letzten Tagen des Aufenthalts, hörten die beiden Mücken den Satz: „Also ich liebe ja Weißbrot, aber jetzt freue ich mich doch auf eine ordentliche Scheibe von unserem Brot zu Hause.“

Ihr Lehrer hatte ihnen sogar einmal ein Stück dieses Brotes mitgebracht. In ihren Augen nichts Besonderes, aber die Klasse musste zugeben, dass zumindest das Blut der Deutschen doch eine andere Note hatte als das der spanischen Menschen. Etwas Neues auszuprobieren, da waren sich die kleinen Blutsauger einig, war ohnehin das Größte.

Auch dafür hatte der Lehrer die wissenschaftliche Erklärung: „Genetische Vielfalt macht uns Stechmücken stark. Deshalb mögen wir es, auch mal über den Tellerrand zu schauen, und deshalb haben wir Moskitos es hier – in einer Touristenregion Spaniens – ganz besonders gut.“ Und bei diesen neuen Fincagästen nun mischte sich noch etwas anderes, gänzlich Unbekanntes mit herein.

Onkel Jorge, der in jungen Jahren die Welt bereist hatte, hatte einen tiefen Zug bei der Frau genommen und es nach langem Überlegen und Nachspüren erkannt: Ja, ganz sicher, da war im Nachgeschmack irgendetwas aus dem Nahen Osten mit drin. Bei den Kindern nur noch ganz sanft zu erkennen, aber für einen Feinschmecker wie ihn dennoch zu erahnen. Nach einem weiteren kräftigen Rüsselzug war er sich plötzlich ganz sicher: ein Hauch von Zedern. Drei der vier Menschen hatten Vorfahren aus dem Libanon.

Jorge geriet sogleich ins Schwärmen. Hatte er doch seine große Liebe in der Hauptstadt Beirut, dem„Paris des Ostens“, getroffen, damals, als es noch nicht diese fürchterlich stinkenden Cremes undSprays gab, die einer Stechmücke wirklich den Appetit verderben können. Ja, damals, als die Menschen noch nach zauberhaft menschlichem Schweiß rochen, die Nase der Stechmücke wurde allenfalls einmal durch ein Parfum in die Irre geleitet.

Zu diesen Zeiten traf Jorge auf Rania, die eleganteste Stechmückendame, der er je begegnet war – jede Nacht bezirzte sie ihn mit ihrem Bauchtanz und dem zartesten Summen, das die Welt bislang gehört hatte. „Ssssssss.“

Er machte es nach. Luisa und Fernando mussten schmunzeln: Jorge war eben ein Romantiker, eine Mücke der alten Schule. Was nach dem Bauchtanz passierte, erzählte er den Kindern nicht, wohl aber von seinen gemeinsamen Streifzügen mit Rania. Sie hatte ihm all ihre geheimen Plätze gezeigt und ihm damit eine Geruchs- und Geschmackswelt eröffnet, die er bis zum heutigen Tage nicht vergessen hatte. Wie schön, dass sie ihm durch diese Menschen noch einmal zuteilwurde. Einen Zug aus dieser Frau zu nehmen war wie eine Reise in die Vergangenheit.

Umso schlimmer, dass sie so aggressiv auf seine Stiche reagierte. Nicht nur dass sie mit ihren Händen sehr schnell nach ihm schlug, nein, selbst mitten in der Nacht schaltete sie das Licht an und nahmdann sogar diese entsetzliche Plastikhand zu Hilfe. Einige seiner Bekannten hatte er damit schon zu Tode kommen sehen.

Die beiden Schlafzimmer der Finca glichen einem Schlachtfeld. Überall klebten schwarze Mückenreste. Makaber. Aber auch irgendwie reizvoll. Er spürte seine Jugend in sich aufsteigen. Wieder musste er an Rania denken. Unerschrocken und verliebt in das Risiko war sie gewesen. Ob sie wohl noch lebte? Er hätte sie damals sofort geheiratet, aber sie war bereits diesem aufgeblasenen langweiligen dicken Stechmückenscheich versprochen. Pah, für ihn hatte er auch Jahrzehnte später nur Abscheu übrig. Hatte sich das Blut von seinen Dienern bringen lassen. Kein Fünkchen Stechmückenehre.

Ups …! Da war wieder ein Schlag, der ihn in die Realität zurückholte. Jorge musste wirklich aufhören in der Vergangenheit zu schwelgen, sonst hatte sein letztes Stündlein geschlagen. Außerdem war er doch verantwortlich für seine Nichte, die heute auf ihrer „Schmausesause“ unterwegs war – so nannten die Stechmücken von „La bisbal del Penedès“ den nächtlichen Streifzug, den Kinder in der Nacht vor ihrem 12. Geburtstag zum ersten Mal erleben durften.

Dann hatten die Stechmücken von ihrer Familie und in der Schule alles über die Gefahren gelernt, die in der Nacht lauerten, und waren reif, das Gelernte umzusetzen. Anschließend wurde ein großes Fest bis in die frühen Morgenstunden gefeiert – denn erst in dieser Nacht wurde aus dem Kind ein wirklicher Blutjäger.

Seine Nichte Luisa war bereit für das Ritual, das zu Beginn der Nacht am Fuße des großen Berges abgehalten wurde. Normalerweise waren es Vater und Mutter, die das Kind segneten, küssten und anschließend in den Kreis aller versammelten Stechmücken aufnahmen. Seit dem tragischen Tod seines Bruders und seiner Schwägerin, die beide von der großen Plastikhand erschlagen wurden, kümmerte er sich, so gut er konnte, um die beiden Kinder.

Er war froh, dass die anderen Stammesmitglieder ihn mit all ihrer Liebe und Fürsorge bei dieser Aufgabe unterstützten. Stechmücken halten eben zusammen. So auch bei der Durchführung des Rituals. Im Kreis sprachen alle gemeinsam die weisen Worte der Ahnen in Form eines Gebetes. „Wenn die Menschen doch nur mehr wüssten von unseren Ritualen, unseren Traditionen und unserem Zusammenhalt untereinander“, dachte Jorge. „Vielleicht würden sie uns dann nicht so sehr hassen? Sie sehen in uns leider nur diese kleinen ‚Mistviecher‘, die sie stechen.“

Gerade heute hatte Jorge auf der Finca ein Gespräch zwischen den Menschenkindern und ihrem Vater verfolgt. Er machte gerade Jagd auf Jorges Bekannte und Freunde, die sich schon im Schlafzimmer versammelt hatten. Sie hatten schon länger nichts zu essen gefunden und waren ziemlich hungrig. Deshalb gingen sie das Risiko ein, bereits vor dem Vorlese-Rückenkraul-Einschlafritual der Menschen im Zimmer herumzuschwirren. Plötzlich begann das Menschenkind zu weinen. Es sagte, dass es doch fies sei, die Mücken einfach zu erschlagen. Das Mädchen fragte seine Mutter vorwurfsvoll, warum ihr diese Tiere nicht leidtäten, wo sie doch sonst nichts vom Tier essen würde aus Mitgefühl mit ihnen.

Der Vater erklärte ihr, dass er wiederum es fies fände von den Mücken, dass sie seine Kinder ansaugen würden und die sich dann tagelang kratzen müssten.

„Das Mädchen macht mir große Hoffnung“, dachte Jorge, denn sie hatte ein wirklich gutes Argument: „Papi, die Kühe erschlagen dich doch auch nicht, wenn du ihre Kälbchen aufisst.“

Dazu weinte sie, ein wirklich empathisches Exemplar dieser Spezies, weil sie verzweifelt genau das Dilemma der Mücken erkannte: „Was sollen sie denn machen? Sie leben doch nun mal von unserem Blut.“

Darauf wusste der Vater auch keine Antwort. Und auch der Junge gefiel Jorge gut. Er sagte: „Von mir aus dürfen die mich piksen. Besser als sie zu erschlagen.“ Und das sagte er so tapfer, obwohl sie DIESE Familie wirklich sehr malträtiert hatten.

„Ein Totschlagargument im wahrsten Sinne des Wortes, das er da liefert“, Jorge musste schon sagen, die beiden gefielen ihm.“Überhaupt sind die Kinder wohl unsere letzte Hoffnung und vielleicht noch diese Veganer“, dachte er. „Ich finde es ja auch nicht gut, dass die Menschen sich tagelang nach unserem Stich an dieser Stelle kratzen müssen und in vielen, vielen Zusammenkünften, auch international mit Stechmücken anderer Länder, wir stehen ja letztlich alle vor demselben Problem, haben wir immer wieder nach einer Lösung gesucht. Unsere Wissenschaftler arbeiten ständig an einer neuartigen Spuckmischung, aber bis auf geringfügige Änderungen, die die Menschen nicht mal bemerken, haben wir da noch keine Lösung gefunden.

Dass wir keine Lösung finden, liegt ja vielleicht auch daran, dass wir dem Schöpfer da nicht ins Handwerk pfuschen sollen. Der hat sich doch ganz bestimmt was dabei gedacht. Vielleicht will er die Menschen ja zum Nachdenken bringen? Ich kleine Mücke weiß es nicht. Demütig senke ich mein Haupt und steche zu. Neben mir meine kleine Nichte Luisa, der ich die bessere Stelle überlassen habe – gleich unter dem Fußknöchel. Während wir gemeinsam saugen, strahlen unser Augen sich an. Mmh, jetzt weiß sie, was ich mit den Zedern des Libanon meinte.“

Aus dem Buch: „Wahre Helden wollen keine sein“ von Jumana Mattukat

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