Podcast und Text von Christa Dregger
„Liebe ist das Erleben des anderen in der eigenen Seele,“ sagte Rudolf Steiner. Für mich ist dies eine der schönsten Aussagen, die ich über die Liebe gehört habe. Ja, dafür leben wir! Diese große Öffnung für einen anderen Menschen. Um die zu finden, reisen wir um die ganze Welt.
Aber wann geschieht sie? Wann erleben wir einen anderen Menschen tatsächlich in unserer Seele?
Es sind oft stille Momente, fernab des Alltags, unter dem Sternenhimmel oder vor der Meeresbrandung. Die geliebte Person muss dafür gar nicht anwesend sein. Allein der Gedanke an sie, an etwas in ihrer Stimme, ihrem Gang, ihrem Blick er-innert uns, dringt in unser Inneres, erzeugt ein Glühen, eine Süße, ein Verlangen der Seele. Ich habe einen bärenstarken Kerl erlebt, der schluchzend sein Auto rechts ran fuhr, weil ihn die Stimme einer Sängerin im Radio so berührt hatte.
Das ist Liebe? Oh ja, das ist ein Aspekt der Liebe. Wir haben in diesem Moment die Schönheit eines anderen Menschen wirklich gesehen. Und vor der stehen wir hilflos. Wir möchten ihr irgendwie dienen, ihr nah sein. Denn wir haben in ihr den Himmel entdeckt. Den Himmel auf Erden.
Und dann ist er wieder weg. Ganz plötzlich hat uns die Erde wieder. Wir sind wieder „vernünftig“ und sagen: Ich war blind vor Liebe. Ich habe gar nicht gesehen, wer diese Person wirklich ist. Wie langweilig, alltäglich, normal. Ich habe projiziert, aber jetzt bin ich wieder vernünftig.
All denen, die so denken, möchte ich am liebsten zurufen: Nein, ihr wart nicht blind. Ihr wart zum ersten Mal sehend. Mit den Augen der Liebe habt ihr im anderen die Wahrheit gesehen. Alle anderen sind blind. Mit den Augen der Liebe sehen wir die Person wirklich – jenseits von all den Kompromissen, Enttäuschungen oder sonstigen Verkrümmungen, die wir alle in diesem unperfekten Leben durchlaufen haben. Mit den Augen der Liebe sehen wir aneinander einen Himmel, den es tatsächlich gibt. Doch wir haben nicht gelernt, in diesem Himmel zu leben. Wir haben nicht gelernt, ihn auf die Erde zu holen.
Himmels-Momente der Liebe sind ein Geschenk. Auch in den allerbesten Beziehungen sind sie nicht von Dauer. Jetzt kommt unsere eigentliche Aufgabe: Dem was wir mit den Augen der Liebe gesehen haben, treu zu bleiben. Auch wenn der oder die Geliebte mit mir streitet, vorwurfsvoll, alltäglich oder dumm ist: die eigentliche Schönheit, die wir einmal gesehen haben, im Inneren zu bewahren und immer wieder aneinander zu wecken, in immer neuen Facetten. Das ist für mich die zweite Stufe der Liebe, und sie besteht in den tausend kleinen, täglichen Entscheidungen zu Gespräch, Versöhnung und Neuanfang und darin, etwas für den anderen zu tun.
Die Sehnsucht nach den Himmelsmomenten aber bleibt. Was können wir dafür tun?
Mein Vorschlag: Üben wir es. Heute. So viel wir können, wo immer wir können, mit jedem, der uns vor die Nase kommt. Es kann die Busfahrerin sein, die wir nicht mehr nur als Funktion anschauen, sondern als Frau, als Mensch. Oder die Kollegen, den Kellner, vielleicht der Kerl, der mir gerade den Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hat. Oder sogar der langjährige Partner. Jeder einzelne Mensch hat diese Schönheit, die nur mit den Augen der Liebe sichtbar wird. Entdecken Sie sie. Wenn es bei einem nicht gelingt, versuchen Sie es beim nächsten. Und stellen Sie sich für einen Moment vor, wie die Welt aussieht, wenn sich alle Menschen so wahrnehmen.
Arbeiten wir dran! Damit der Himmel wirklich auf die Erde kommt.