Von Julia Schütrumpf
Julia Schütrumpf (*1975) ist Mutter von zwei Kindern und studierte Germanistik, Anglistik und Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Heute widmet sie sich interdisziplinären Themen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Heilung: den Neurowissenschaften, der Traumaforschung, sowie der Bindungs- und Resilienzforschung. Ihr besonderes Interesse gilt der heilsamen Wirkung von Oxytocin, der tiergestützten Therapie und der Friedensarbeit im persönlichen wie gesellschaftlichen Kontext.
“Und lernen wir besser uns freuen, so verlernen wir am besten, anderen wehe zu tun und Wehes auszudenken.” (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra)
Als Generation der Kriegsenkel bezeichnet man jene Menschen, die etwa zwischen 1960 und 1975 geboren wurden. Es ist eine Bevölkerungskohorte in Deutschland, die den Zweiten Weltkrieg nicht unmittelbar erlebt hat und trotzdem davon geprägt wurde. Die Journalistin Sabine Bode hat 2013 als eine der ersten in Deutschland dokumentiert, wie die psychologischen Folgen des Zweiten Weltkriegs bis mindestens in die dritte Generation hineinwirken. Ihr Buch Kriegsenkel. Die Erben der Vergessenen Generation thematisiert die psychischen Spätfolgen des Krieges auf die Generation der Kriegsenkel, die Kinder der Kriegskinder. Weitere Autoren nahmen sich des Themas an und erfassten ein Grundgefühl der Trauer und Entfremdung, das sich durch eine ganze Bevölkerungsgruppe zieht: Obwohl sie in Zeiten des Wohlstands aufgewachsen sind, fühlen sich viele Kriegsenkel verunsichert, ziellos und emotional von ihren als Kriegskinder oft schwer traumatisierten Eltern abgetrennt.
Heute melden sich immer mehr Kriegsenkel zu Wort und organisieren sich deutschlandweit in Gruppen. Auch in meiner Heimatstadt München findet viermal jährlich ein Gruppentreffen statt. Im Austausch mit Menschen aus der Kriegsenkel-Bewegung habe ich immer wieder ähnliche Erfahrungen gehört: Das ungesagte Leid der Eltern und Großeltern legt sich wie ein Schatten über das eigene Leben. Die Kriegsenkel berichten übereinstimmend von diffusen Gefühlen der Schuld, der Rastlosigkeit oder des Nichtgenügens, sowie der Unfähigkeit, Nähe und Intimität zuzulassen. Viele Kriegsenkel bleiben bindungs- und kinderlos. Bei dem letzten Treffen in München, an dem ich teilgenommen habe, waren von 20 Teilnehmern im Alter zwischen 50 und 65 Jahren 15 kinderlos, viele leben auch beziehungslos und sozial sehr isoliert. Sie spüren eine Schwere und Trauer in sich, deren Ursprung sie nicht klar benennen können.
„Ich wusste schon mit 12 Jahren, dass ich keinesfalls Kinder wollte, ich hätte ihnen niemals gerecht werden können”, meint ein Teilnehmer nachdenklich.
Eine Teilnehmerin erzählt mir, dass sie seit Jahrzehnten niemand in ihre Wohnung lassen kann, die keineswegs unordentlich sei, sie könne nur keine Nähe zu Menschen ertragen. Lediglich bei Tieren, wie ihren Pferden, fühle sie sich wohl und entspannt. Dies bestätigt auch eine andere Teilnehmerin, die nur bei ihren „tierischen Freunden“, den Hunden, sich angenommen und geborgen fühlt. Mit Menschen könne sie überhaupt keine Nähe zulassen.
„Ohne meine Hunde hätte ich mir sicher schon längst das Leben genommen,“ sagt eine Teilnehmerin schließlich leise, die seit Jahrzehnten wegen Ängsten und Depressionen in Behandlung ist.
In unserer Gruppe, so stellt sich heraus, haben 9 von 20 Teilnehmern engen und positiven Kontakt zu Hunden, Katzen oder Pferden, eine Zahl, die mir ausgesprochen hoch erscheint. Bei Kriegsenkeln, die oft Schwierigkeiten haben, sich sicher zu binden oder Gefühle zuzulassen, kann die Beziehung zu einem Tier wie ein Tor zur Welt der Emotionen wirken. Tiere urteilen nicht. Sie fordern keine verbale Erklärung für tiefliegende Ängste, keine Rationalisierung von Trauer oder Scham. Sie sind einfach da – präsent und authentisch. Und genau diese bedingungslose Annahme kann heilsam sein.
Interessant ist auch, dass es für die heilende Wirkung von Tieren immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse gibt: Studien belegen, dass die Interaktion mit Tieren – insbesondere mit Hunden – die Ausschüttung des Hormons Oxytocin fördert. Dieses Hormon, landläufig bekannt als „Kuschelhormon“ oder „Bindungshormon“, spielt eine zentrale Rolle bei der Stressreduktion und dem Aufbau von Vertrauen. Doch was vielen noch unbekannt ist: Oxytocin hat auch heilende Wirkungen auf den Körper, unter anderem auf die Wundheilung, auf Alterungsprozesse, als Schutz vor Krebs und Demenz – und speziell auf das Herz, wo es zum Beispiel nach Infarkten die Regeneration des Herzmuskels bewirkt.
Insbesondere Hunde scheinen eine besondere Fähigkeit zu besitzen, in Resonanz mit dem emotionalen Zustand ihres Gegenübers zu gehen. Wenn ein Mensch einem Hund begegnet und ihn streichelt, ihm in die Augen blickt oder mit ihm spielt, kommt es zur Ausschüttung von Oxytocin – nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Tier. Dieses hormonelle Wechselspiel verstärkt die emotionale Bindung und wirkt beruhigend auf das Nervensystem. Für Menschen, deren Kindheit von emotionaler Kälte oder Unsicherheit geprägt war, kann diese Erfahrung wie eine neue emotionale Prägung wirken: Zum ersten Mal fühlt sich eine Bindung sicher an.
Wie Hunde spielen auch Pferde eine wichtige Rolle in der tiergestützten Traumatherapie. Einige Kriegsenkel berichten mir, dass sie durch die therapeutische Arbeit mit Pferden in Trauma-Kliniken lernen, sich wieder zu spüren, Grenzen zu setzen und Vertrauen zu fassen – zu sich selbst und zu anderen. Das Tier dient dabei als Spiegel und als Brücke zum eigenen Inneren.
Die heilende Kraft der Tiere ist heutzutage kein Mythos mehr, sondern ein wachsendes Forschungsfeld in Psychologie und Medizin. Für eine Generation, die oft in Sprachlosigkeit aufgewachsen ist, ermöglichen Tiere eine intuitive Verbindung – eine Rückkehr zu Gefühlen, die nie gelebt werden durften. Und vielleicht ist es genau das, was es braucht, um das Herz zu heilen.
„Wir konnten nie über unsere Gefühle sprechen,“ ist ein oft gehörter Satz oder „Gefühle gab es nur als Wut und Zorn, die oft aus einem nichtigen Anlass heraus brutal an uns Kindern ausgelassen wurden.“ Weitere Teilnehmer berichten von dem Streben, nach außen hin eine „perfekte“ Familie darstellen zu wollen, während Schwächen und Konflikte schamhaft hinter der schönen Fassade verborgen wurden. Auch Suchtprobleme mit Alkohol und Medikamenten sind eine häufige Thematik in den Familien von Kriegsenkeln. Diese Verdrängungsstrategien gingen oft mit emotionaler Kälte, gewaltsamen Erziehungsmethoden und einem übermäßig autoritären Umgang mit den eigenen Kindern einher.
Das Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von Johanna Haarer (1934) hatte die Erziehung während der NS-Zeit geprägt. Es propagierte eine autoritäre Erziehung, in der Gehorsam, Disziplin und Distanz wichtiger waren als emotionale Bindung. Die Deutschen sollten ihre Kinder zu gehorsamen und robusten Soldaten erziehen, die dem Dritten Reich bedingungslos dienten. Früher waren nicht nur Eltern, sondern auch Ärzte der Ansicht, dass Kleinkinder besonders widerstandsfähig und nahezu unempfindlich gegenüber Schmerz seien. Es war sogar üblich, Babys ohne Narkose zu operieren.
Es war auch verbreitet, dass Babys gar keine Wahrnehmung für die emotionale Verfassung der Erwachsenen um sie herum hätten, und man schrieb ihnen sogar eine „beruhigende Wirkung“ in schweren Zeiten zu. Kinder sollten keinesfalls verwöhnt werden, auf Schreien sollte nicht mit Trost, sondern möglichst gar nicht reagiert werden. Das Buch wurde in einer etwas abgeschwächten Form auch nach dem zweiten Weltkrieg weiter mit großem Erfolg vertrieben und seine „Erziehungsziele“ wirkten noch Jahrzehnte nach, bis sie erst ab den 1970er Jahren langsam hinterfragt wurden.
Bei den Nachkommen der Kriegskinder spricht man nicht mehr von einem unmittelbaren „Kriegstrauma“, sondern von einem „sekundären Trauma“, ein Begriff, der von der Psychiaterin und Neurowissenschaftlerin Prof. Rachel Yehuda geprägt wurde, und in der Folge von „Bindungsstörungen“.
Die Epigenetik, ein relativ neues Forschungsfeld, weist darauf hin, dass Stress, Angst und traumatische Erfahrungen im Genom Spuren hinterlassen und vererbt werden. In ihren Studien fand Yehuda heraus, dass die Kinder von Holocaust-Überlebenden oft ähnliche epigenetische Marker wie ihre Eltern aufweisen, insbesondere Veränderungen, die mit Stressreaktionen und der Regulation des Cortisolspiegels, eines Stresshormons, verbunden sind.
Es wird klar, dass traumatische Ereignisse nicht nur in den Erinnerungen der Überlebenden weiterleben, sondern auch die biologischen Grundlagen ihrer Nachkommen beeinflussen – eine Entdeckung, die das Verständnis von Trauma und Vererbung auf eine ganz neue Ebene hebt.
„Ist ein Hund oder ein Pferd nicht nur ein Ersatz für den echten menschlichen Kontakt?“, kommt die Frage auf. Übereinstimmend stellen wir in der Gruppe fest, dass Tiere Helfer sein können, um überhaupt Nähe und Intimität zuzulassen.
Auf die Frage, warum viele Kriegsenkel den Umgang mit Tieren den Kontakt mit Menschen vorziehen, sagt eine Betroffene:
„Meine Hunde sind einfach immer für mich da – ohne Erwartungen, während menschliche Beziehungen oft kompliziert und belastend sind. Die Hunde akzeptieren mich einfach so, wie ich bin.”
Außerdem geben Tiere Struktur, weil sie regelmäßig versorgt werden müssen, und das kann helfen, Stabilität im Alltag zu finden. Und wer für ein Tier sorgt, spürt, dass er trotz seiner Schwierigkeiten noch Einfluss auf sein Leben hat – ein wichtiger Schritt aus der Hilflosigkeit, die ein sekundäres, schwer greifbares Trauma oft hinterlässt.
„Aber eigentlich gehören doch die Menschen zu den Menschen,“ meint schließlich die Frau, die durch ihre Hunde den Mut zum Weiterleben gefunden hat.
In mir steigt die Frage auf: Können wir die Brücken, die uns Tiere zu Gefühlen wie Nähe und Geborgenheit bauen, auch nutzen, um als Menschen wieder mehr in Kontakt mit anderen Menschen zu gehen? Kann sich hier ein explorativer Raum öffnen, in dem wir die Bereitschaft, Nähe zu erleben, auch auf den zwischenmenschlichen Kontakt ausweiten können?
Studien zeigen, dass Menschen, die mit Angst und Depression als Folge von Traumata belastet sind, oft niedrige Oxytocin-Werte im Blut haben. Der positive Kontakt mit Tieren regt bei Mensch und Tier die Ausschüttung von Oxytocin an. Oxytocin ist ein Hormon, das im Hypothalamus produziert und von der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) in den Blutkreislauf abgegeben wird. Es wirkt sowohl als Hormon im Körper als auch als Neurotransmitter im Gehirn. Beim Streicheln, Kuscheln oder einfach durch die Nähe eines vertrauten Tieres oder eines Menschen wird das Hormon freigesetzt, was Stress reduziert und ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Macht es daher Sinn, zu vermuten, dass es sinnvoll ist, zur Traumaheilung neben dem Kontakt mit Tieren auch zwischenmenschliche Aktivitäten zu fördern, die den Oxytocin-Gehalt im Blut erhöhen – und wenn ja, welche Aktivitäten könnten das sein?
Aktuell treibt mich besonders die Frage um: Wie könnte eine Praxis aussehen, in der Menschen Nähe und Geborgenheit einerseits im Umgang mit Tieren erfahren können – eine Praxis, die in der Folge – als nächster Schritt sozusagen – auch dabei hilft, Menschen wieder zu den Menschen zu bringen? Durch meine persönliche Heilungserfahrung, die ich mit den Hunden im Hundegehege in der Gemeinschaft von Tamera in Portugal machen durfte und die ich auf meiner Webseite dogs heal dokumentiere, wächst in mir der Wunsch, meine Erfahrung in eine zugängliche Praxis zu überführen und gemeinsam mit anderen Interessierten weiterzuentwickeln.
Dabei beschäftigt mich die Frage: Wenn Menschen durch einen angenehmen Kontakt mit Tieren eine erhöhte Ausschüttung von Oxytocin erfahren, und das eine positive Wirkung auf den Menschen hat – wie lässt sich diese Erfahrung auf zwischenmenschliche Beziehungen ausdehnen? Besonders interessant erscheinen mir die somatischen Praktiken, die nachweislich die Konzentration von Oxytocin erhöhen und die ich in Tamera bereits kennenlernen durfte, wie Breathwork, TRE (Tension and Trauma Release Exercises), Somatic Dance, Contact Improvisation, Non-Verbal Playground, angeleitetes Kuscheln und Massage-Gruppen, die in einem sicheren, nicht-sexuellen Kontext tiefe Körpererfahrungen ermöglichen. Bei all diesen Aktivitäten wird Oxytocin ausgeschüttet, was zu einem stärkeren Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit führt. Sicherheit und Geborgenheit sind es, so schildern mir Kriegsenkel immer wieder eindrucksvoll, was sie in ihrer Kindheit am meisten vermisst haben.
Gerade in der Generation der Kriegsenkel begegne ich immer wieder Menschen, die auch sexuelle Traumata mit sich tragen. Das Eröffnen bewusster, nicht-sexueller Berührungsräume kann möglicherweise die schmerzlich vermisste Sicherheit und Geborgenheit vermitteln und das Risiko einer Retraumatisierung verringern – eine Überlegung, die sich aus meinen eigenen Erfahrungen speist.
Die Kriegsenkel-Treffen in München endet mit einem Appell für den Frieden, angesichts der aktuellen „Kriegstreiberei“ in Deutschland, der Aufrüstung und der Selbstverständlichkeit, mit der in den Medien wieder von einem baldigen großen Krieg in Europa gesprochen wird und mit der großen Hoffnung, dass durch Bewusstwerdung ein Weg in die Heilung möglich ist. Wir Kriegsenkel dürfen uns erlauben, zu fühlen, zu sprechen und zu heilen. Frieden beginnt bei uns selbst – und strahlt von dort auf unsere Mitmenschen, die Tiere und die gesamte Schöpfung aus.
Endnoten:
1 Sabine Bode: Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation (2013
2 https://www.scinexx.de/news/biowissen/hundeblick-hat-es-in-sich/
3 https://www.scinexx.de/news/medizin/kuschelhormon-heilt-das-herz/
4 Johanna Haarer: Die deutsche Mutter und ihre erstes Kind (1934)
5 https://www.newsletter-epigenetik.de/holocaust-ueberlebende-vererben-trauma/
6 https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-1986-5990.pdf
Weiterführende Literatur:
Bettina Alberti: Seelische Trümmer: Geboren in den 50er und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. München 2010
Matthias Lohre: Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh/München 2016
Michael Schneider, Joachim Süss (Hrsg.): Nebelkinder – Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte, Berlin 2015