Terra Nova

Editorial Terra Nova 5.8.21

„Scheiß di net an.“
„Sei net deppert.“
„Die wichtigste Orientierung ist die Liebe.“

(Die drei Firmengrundsätze von GEA – Waldviertler Schuhe)

Lieber Terranaut, liebe Terranautin,

Am letzten Tag des ZEGG-Sommercamps durften wir Heini Staudinger erleben, den Gründer und Geschäftsführer der GEA-Waldviertler Schuhfabrik, eines unkonventionell geführten Unternehmens mit Filialen in ganz Österreich, Schweiz und Deutschland. Er verbindet seine Geschäftstätigkeit mit echter Anteilnahme am Schicksal der Erde. Sein ganzes Leben, sein Beitrag für eine bessere Welt, seine Leidenschaft haben uns begeistert. Seine Firmengrundsätze entwickelte er zusammen mit seinen Nichten und Neffen. Den ersten – „Scheiß di net an“ – können wir als Österreichische Übersetzung von „Fürchtet euch nicht“ verstehen. Die allgegenwärtige, untergründige Dauer-Angst, die gerade in den letzten 1-2 Jahren so global an die Oberfläche kam und die Politik bestimmte, ist ein Verbündeter jedes bestehenden Unrechtsystems. Durch Angst können wir immer wieder getriggert werden, Dinge tun und zulassen, die nicht mit unseren Werten übereinstimmen. Das macht uns zu Mittätern am globalen Zustand der Erde. Angst zu überwinden – das heißt sie erst einmal zu erkennen und sie ganz tief und fundamental durch Vertrauen zu ersetzen – ist daher nicht nur eine persönliche, sondern eine politische Aufgabe. Heini sagte sinngemäß: „Es reicht nicht, der Angst zu sagen: Schleich di. Sie wird dann von irgendwoher zurück kommen. Du musst sie als ein Teil von dir anerkennen, aber ihr beizeiten auch sagen: Mach Sitz!“

Heini Staudinger ist eine sehr lebendige Verkörperung davon, was möglich ist, wenn wir nicht mehr auf die Angst, sondern auf unsere Leidenschaft und Begeisterung hören. Er war vor drei Jahren auf einem Defend the Sacred Treffen in Tamera. Der Text unten besteht aus Auszügen seiner damaligen Rede und wurde in voller Länge in dem Buch „Defend the Sacred“ veröffentlicht. Ich lege dir aber vor allem das Video seines aktuellen Beitrags im ZEGG ans Herz, das du hieransehen kannst. Er begann mit dem unten stehenden Gedicht von Bertolt Brecht, das ich ebenfalls sehr aktuell fand und hier auch mitschicke. Stell dir einmal die ganzen Krücken vor, die dir im Leben angeboten wurden – und die dich lahm gemacht haben. Was für ein Freudengelächter es wird, sie endlich zu verbrennen!

Ich grüße dich ganz herzlich – und nicht vergessen: Scheiß di net an!

Christa Leila 

P.S. Mit „Brennstoff“ gibt Heini Staudinger eine wunderbare, liebevolle, poetische und rebellische Zeitschrift heraus, die man auch online lesen und kostenlos bestellen kann.

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Hier geht es zum Video: https://fair.tube/videos/watch/8e3551a9-f477-4a8e-a364-9626f92f4ab9?start=0s

DIE KRÜCKEN
von Bertolt Brecht (1938)

Sieben Jahre wollt kein Schritt mir glücken.
Als ich zu dem großen Arzte kam,
Fragte er: Wozu die Krücken?
Und ich sagte: Ich bin lahm.

Sagte er: das ist kein Wunder.
Sei so freundlich, zu probieren!
Was Dich lähmt, ist dieser Plunder.
Geh, fall, kriech auf allen Vieren!

Lachend wie ein Ungeheuer
Nahm er meine schönen Krücken,
Brach sie durch auf meinem Rücken,
Warf sie lachend in das Feuer.

Nun, ich bin kuriert: ich gehe.
Mich kurierte ein Gelächter.
Nur zuweilen, wenn ich Hölzer sehe,
Gehe ich für Stunden etwas schlechter.

Das Wichtigste im Leben ist das Leben

Auszüge aus einer freien Rede von Heini Staudinger

Als Firma leben wir ökonomisch in einem Widerspruch. Mit unserem Fleiß und der erfolgreichen Firma unterstützen wir einerseits das System, andererseits haben wir das Verlangen, dieses System zu überwinden. Wir können diesen Widerspruch nicht auflösen, aber wir wollen das Beste daraus machen. Immer mehr Menschen fühlen, dass das System so nicht überleben kann. Es ist notwendig, es zu verändern. 
Der amerikanische Historiker und Aktivist Howard Zinn hat einmal gesagt: „Unser Problem ist nicht der zivile Ungehorsam. Unser Problem ist der zivile Gehorsam. Unser Problem ist, dass unzählige Menschen aus aller Welt den Diktaten ihrer Regierungen gehorcht haben und in den Krieg gezogen sind. Millionen sind auf Grund dieses Gehorsams ermordet worden. Unser Problem ist, dass Menschen aus aller Welt angesichts von Armut, Hunger und Grausamkeit, Dummheit und Krieg immer noch gehorchen.“
Unser gesellschaftliches Hauptproblem ist – das glaube ich ganz im Ernst –, dass wir zu wenig aus unserer Sehnsucht heraus machen. Wir sind Teil einer schweigenden Masse, die das alles erlaubt. Die Angst ist unser Hauptthema. Sie hindert uns daran, unsere Stimme zu erheben. Deswegen steht in der Bibel so häufig der Satz: „Fürchtet euch nicht!“ Dieser Satz ist einer unserer Firmengrundsätze. Alle glauben, irgendwelchen Sachzwängen folgen zu müssen anstatt der Sehnsucht. Darum sieht die Welt so aus, wie sie aussieht.
Es gibt große und schwere Aufgaben, die vor uns liegen. Ich glaube nicht an das Ende der Arbeit. Es gibt mehr als genug Arbeit für alle. Zum Beispiel müssen wir in den nächsten Jahren Millionen Quadratkilometer unserer Erde aufforsten. Das ist ein Gebot der Stunde. Bäume helfen uns beim Atmen. Die Energiewende muss uns gelingen. Dafür brauchen wir die Jugend. In immer mehr Ländern ist die Jugend arbeitslos. Die Botschaft der Erwachsenenwelt an sie ist: „Wir brauchen euch nicht.“ Diese Botschaft ist eine Gemeinheit und außerdem ein Schwachsinn. Denn wir brauchen die jungen Menschen. Wir brauchen die klügsten und einsatzfreudigsten Menschen, um das Match für die Seite des Lebens zu gewinnen.
Ich weiß nicht, wie hoch unsere Chancen sind, diesen Wettlauf zu gewinnen. Aber ich glaube, dass es sich trotzdem lohnt, so zu handeln, als könnte es uns gelingen, die Welt zu retten und geschwisterlich miteinander umzugehen. Wenn wir angesichts dessen, was gerade auf der Erde geschieht, nichts tun, laufen wir Gefahr, dem Zynismus zu verfallen.
Mit 19 Jahren fuhr ich mit einem Freund mit dem Moped durch Afrika. Dort haben wir eine völlig andere Lebensweise kennengelernt. Jeden Tag kamen wir in den Genuss einer Gastfreundschaft, von der wir hier in Europa nur träumen können. Überall, wo es Essen gab, bekamen wir genug zu essen, immer waren wir an Orten eingeladen, wo wir sicher übernachten konnten. So wurden die Afrikaner meine wichtigsten Lehrer. Ihnen habe ich die wertvollste Erkenntnis meines Lebens zu verdanken, nämlich: Es gibt im Leben nichts Wichtigeres als das Leben. Nicht das Geld, nicht das Auto, nicht Haus oder Karriere – nein: Das Wichtigste im Leben ist das Leben.

Den vollen Text findest du im Buch Defend the Sacred.


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