Die Bewohner des Friedensdorfes San José de Apartadó haben sich vor 27 Jahren mitten im kolumbianischenBürgerkrieg für Gewaltfreiheit entschieden. Doch trotz der Friedenspolitik des linken Präsidenten Gustavo Petro ist ihr «neutrales Dorf» nun abermals bedroht: Am Tag nach Petros Besuch wurden wieder zwei Menschen ermordet, wahrscheinlich von Paramilitärs. Die Dorfbewohner haben bereits über 400 Gewaltopfer zu beklagen.
Zum Pfingstsymposium bei Heini Staudinger in Österreich vom 17.-20. Mai werden zwei Vertreter des inneren Rats der Friedensgemeinde anreisen: Yudis Alba Arteaga und José Roviro López Rivera. Es ist Teil ihrer Europareise, auf der sie ihre Unterstützer besuchen. Mehr dazu hier: gea-waldviertler.at/symposium/symposium2024
Am 18. März besuchte der kolumbianische Präsident Gustavo Petro die Kreishauptstadt Apartadó und sprach – erstmals für einen Präsidenten – Worte der Anerkennung und Wiedergutmachung für die Friedensgemeinschaft aus. Bereits am nächsten Tag kam die Antwort des Paramilitärs – so versteht es zumindest die Friedensgemeinde: Die 30-jährige Nalleley,Mutter von drei Kindern, sowie der 14-jährige Edinson wurden brutal ermordet. Es sind die ersten Morde seit Jahren in dem Friedensdorf, das seit 1997 um sein Überleben kämpft. Gibt es einen Zusammenhang mit dem Besuch des Präsidenten?
Arley Tuberquia, 42, ein Sprecher der Friedensgemeinde, sagt: «Möglicherweise. Der Präsident möchte, dass die Gewalt im Land ein Ende hat. Das ist eine gute Initiative. Es gibt aber Gruppierungen, die sich von Blut ernähren. Schon seit Monaten gab es wieder Drohungen gegen die Mitglieder der Gemeinde. Wir sind ihnen ein Dorn im Auge.»
Warum? «Die Region besitzt viele natürliche Ressourcen, Kohle, Gold, Öl und Wasser. Das weckt Interessen der multinationalen Konzerne. Das Paramilitär kontrolliert das Gebiet und herrscht mittels Angst. Für jede Kuh, die jemand verkauft, ist eine illegale Steuer an sie zu zahlen. Die Friedensgemeinschaft geht einen anderen Weg und will sich nicht unterwerfen und von bewaffneten Gruppen kontrollieren lassen. Wir beschützen Land, Menschen und die Natur vor den Eingriffen der Konzerne.»
1997 liessen Grossgrundbesitzer überall im Norden Kolumbiens Kleinbauern aus den Wäldern vertreiben. Paramilitärs, Guerillagruppen, Armee und bewaffnete Schmugglerbanden kämpften mit aller Brutalität um die Vormacht im strategisch wertvollen Gebiet in der Nähe der Grenze zu Panama. Tausende starben, Millionen Landbewohner landeten in den Slums der Städte.
Doch nicht alle liessen sich vertreiben. Im Dörfchen San José de Apartadó sammelten sich rund 1.300 Kleinbauern. Sie wollten auf ihrem Land bleiben, egal mit welchen Konsequenzen. Mit Hilfe internationaler Organisationen wie dem Roten Kreuz gründeten sie ein neutrales Dorf und gaben sich Regeln, darunter: keine Gewalt, keine Waffen, keine Kooperation mit bewaffneten Gruppen.
Als Paramilitärs eine Station im Dorf errichteten, zogen die Bewohner flussabwärts auf ein Stück unbewohntes Land und bauten dort ein komplett neues Dorf: San Josecito – das «kleine San José». Gemeinsam bestellen sie ihre Kakaoplantagen, schützen die Wälder vor der Agrarindustrie und dem Kokainanbau. Sie gründeten eine eigene Schule, eine eigene Gesundheitsversorgung, eine gemeinsame Dorfküche, einen Dorfrat und versuchen, möglichst autark zu sein. Mehr und mehr Weiler und einzelne Gehöfte schlossen sich ihnen an.
Doch der Preis für ihren Widerstand war hoch: In den 27 Jahren seit 1997 wurden 412 Menschen ermordet. Kaum eine Familie, die nicht Angehörige verloren hat. Die Täter – ob vom Paramilitär, der Armee oder der Guerilla – gingen straffrei aus.
Wäre es bei dieser Übermacht nicht besser gewesen, sich anzupassen? «Nein», meint Dorfsprecher Arley. «Die Entscheidung zur Gewaltlosigkeit hat meiner Meinung nach das Überleben der Gemeinschaft gesichert. Hätte sich die Gemeinschaft bewaffnet, wären wir alle schon längst ausgelöscht worden.»
San Josecito wurde weltweit bekannt: Internationale Gruppen unterstützen und begleiten die Gemeinde, treten für sie ein vor Parlamenten und bei Medien. Die Gemeinde erhielt internationale Preise. Unterstützer halfen beim Aufbau einer kleinen Kakaofabrik. All das schützt vor den bewaffneten Gruppen, die lieber ohne internationale Zeugen morden.
So wurde die Gewalt subtiler. Statt Angriffe gab es ökonomischen Druck sowie Verleumdungskampagnen in der Region. Gerüchte wurden gestreut, die Friedensgemeinde verhindere den Fortschritt. Im Landrückgabegesetz sieht die Friedensgemeinde eine erneute Bedrohung. Eigentlich als Landreform gedacht, durch das im Bürgerkrieg enteignete Eigentümer ihr Land wieder in Besitz nehmen können, fürchtet die Friedensgemeinde, dass der sogenannte neue «Landmarkt» für die wirtschaftlichen Interessen von Konzernen missbraucht wird und ihnen damit ihr Land genommen werden soll.
«Wir haben unser Land vor 20 Jahren rechtmässig erworben und seitdem bewirtschaftet. Wir leben davon. Es darf uns nicht genommen werden», schrieben sie in einem Brief an ihre europäischen Unterstützer. Mit dem Geld internationaler Freunde wollen sie weiteres Land kaufen und dort die Natur vor der Ausbeutung durch Konzerne bewahren.
Gespannt wartete man auf den Besuch von Präsident Gustavo Petro in der Region. Arley: «Als Petro nach Apartadó kam, sprach er von Versöhnung mit der Friedensgemeinschaft, von der Anerkennung der Morde an Mitgliedern der Friedensgemeinschaft. Besonders lobte er unseren Umgang mit dem Land. Und nur 19 Stunden später antworteten die Mörder mit zwei weiteren Morden.»
Könnte der Präsident etwas tun, um der Friedensgemeinschaft zu helfen?
«Er könnte, aber es wird schwierig», meint Arley. «Wir fordern unter anderem, dass die paramilitärischen Gruppen aufgelöst werden. Dass die Straflosigkeit aufhört. Solange die Morde nicht verfolgt werden, wird es weitergehen.»
Wie geht es der Familie von Nallely und Edinson jetzt?
«Wie wir alle empfinden sie Trauer und Schmerz über die Abwesenheit ihrer Lieben, die ihnen gewaltsam weggenommen wurden. Aber selbst die drei Kinder oder der verwitwete Ehemann Diego empfinden keinen Hass.»
Die zurückgelassene Familie darf sich aufgehoben und begleitet fühlen. «Der Tod ihrer Liebsten ist für uns alle von Bedeutung. So spüren sie, dass sie nicht allein sind, denn es gibt andere Mütter, andere Kinder, die um ihre Toten trauern. Das gibt uns die Kraft, nicht Groll oder Rache in unseren Herzen nisten zu lassen.»
Immer wieder erhalten Mitglieder der Friedensgemeinde Angebote von bewaffneten Gruppen, sich ihnen anzuschliessen. Sie werden gelockt mit Geld oder der Möglichkeit für Rache.
Arley: «Doch auch unsere jungen Menschen, die Familienangehörige verloren haben, halten an den Prinzipien der Gewaltlosigkeit fest. Das ist das Beste, was wir erreicht haben.»
Was können wir in Europa tun, um die Friedensgemeinschaft zu unterstützen?
«Erzählt unsere Geschichte weiter, damit mehr Menschen erfahren, dass man auch inmitten von Grausamkeiten als Gemeinschaft friedlich leben kann. Krieg und Gewalt führen zu mehr Krieg und mehr Gewalt. Der einzige Weg zu einer besseren Welt besteht in Gewaltfreiheit. Ich sage das auch im Hinblick auf Gaza, Palästina, die Ukraine.»
Zum Pfingstsymposium bei Heini Staudinger in Österreich vom 17.-20. Mai werden zwei Vertreter des inneren Rats der Friedensgemeinde anreisen: Yudis Alba Arteaga und José Roviro López Rivera. Es ist Teil ihrer Europareise, auf der sie ihre Unterstützer besuchen. Mehr dazu hier: gea-waldviertler.at/symposium/symposium2024