Terra Nova

Terra Nova Editorial vom 26.5.22: Vater und Mutter ehren – und bewerten

„Erst wenn beide Geschlechter in der Lage sind, sich ohne falsche Überhöhung und ohne familiäre Wutgeschichten auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, kann diese verdrehte Welt in Ordnung kommen.
Dieter Duhm
                                                                                                                                                                                                               

Liebe Freundinnen und Freunde von Terra Nova,

Danke für das wunderschöne Vernetzungstreffen am letzten Wochenende im Steigerhaus in Thüringen – danke an unsere Gastgeber, danke an alle, die da waren. Der schönste Moment war das gemeinsame Bad in einem kleinen See inmitten des Waldes, wo der Bergbau ein tiefes Loch gerissen hatte – und die Natur in dieser Wunde von selbst ein Paradies geschaffen hat. Ein Heilungsbiotop in der Natur – als Gleichnis für die Heilungsbiotope, die wir unter Menschen aufbauen wollen.

Heute ist Vatertag, und ich möchte dich gerne jenseits aller ironischen Bezüge auf die heutigen Herrenausflüge auffordern, einmal hinzuschauen, was dir dein Vater bedeutet. Schon das Wort Vater. Oder Väterlichkeit. In mir entsteht an dieser Stelle Berührung, Liebe und Sehnsucht. Während meine Mutter immer (viel zu viel) um und mit uns war, war Vater immer derjenige, der von irgendwoher zurückkam und auf den ich mich unendlich freute. Seine Ruhe, sein Wissen und sein Humor vermittelten mir Sicherheit. Ich habe schon als kleines Kind seine Verantwortung und Liebe für uns alle gefühlt. Und ich bemühte mich immer um seine Nähe. Ich bin sicher, dass ich auch heute noch das in Männern liebe, was mein Vater verkörpert hat.

Aber warum hat er sich so oft entzogen? Warum war ihm alles unangenehm, was mit Gefühlen zu tun hatte? Warum überließ er der Mutter das Feld, sobald es um Auseinandersetzung und Konflikte ging? Er lief aus dem Haus, wenn sie emotional wurde. Und je mehr er weglief, desto emotional dominanter wurde sie, und schließlich liefen auch wir Kinder aus dem Haus.

Die meisten von uns können Geschichten von dominierenden Müttern und abwesenden Vätern erzählen, immer in einer etwas anderen Schattierung, denn unser jeweiliges Familiensystem variiert, folgt aber grundlegenden Strukturen. Damit wir nicht unbewusst die Dramen unserer Familien wiederholen, sollten wir uns beizeiten klar darüber werden, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Warum wir in der Liebe immer dieselben Fehler machen. Hinschauen und – in Liebe und Klarheit erkennen und bewerten, was unsere Eltern getan haben. Wo sie uns geliebt haben, wo aber auch nicht, weil ihnen da ihr Schmerz und ihre Unzufriedenheit wichtiger war. Eines soll dabei klar sein: Bewerten heißt nicht verurteilen. Was ich erkannt und bewertet habe, das kann ich auch verstehen und schließlich vergeben.

Als Studientext der Woche habe ich „Die Liebe zwischen Tochter und Vater“ gewählt, er stammt aus dem Buch „Und sie erkannten sich“ von Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels.

Ich möchte auch ein Video mit dir teilen, das Henry Sperling vom Studio Terra Nova in Tamera gedreht hat: Es zeigt eine Aktion im Rahmen der Bewegung „One Billion Rising“ vom Februar diesen Jahres, es ist die Dokumentation einer jährlichen politischen Tanz-Aktion mit dem Titel: „Rise for Bodies of all Women, Girls and the Earth„. Das Video ist sehr schön – und dennoch meines Erachtens einseitig. Wer erhebt sich für die Männer? Warum grenzen wir sie aus? Sehen wir nicht, dass es in allen Geschlechtern Täter und Opfer gibt? Darüber möchte ich gern ins Gespräch mit dir kommen.

Ich wünsche gute Inspiration!

Herzlichen Gruß

Christa

P.S. Für Lesefaule habe ich hier das Editorial und den Studientext auf Band gesprochen:


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