Auszug aus einem Text von Andreas Weber
Das Denken, das Ubuntu zugrunde liegt, wird als Animismus bezeichnet. Animismus ist die Idee, dass die übrige Welt nicht aus stummen Objekten besteht, sondern aus Personen. Personen haben Interessen und Bedürfnisse. Sie sind Akteurinnen und Akteure. Ein animistischer Ansatz setzt voraus, dass wir mit diesen anderen, nichtmenschlichen Personen ebenso Gegenseitigkeit herstellen müssen wie mit anderen Menschen. Wir müssen mit ihnen teilen, um ein Anrecht auf unseren Platz zu erhalten, und, noch wichtiger, um zu ermöglichen, dass dieser geteilte Platz fortgesetzt Leben hervorbringen kann. (…)
Animismus, die Kosmologie indigener Gemeinschaften, ist die radikalste Form, Gegenseitigkeit zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Personen zu denken und zu organisieren. Um das ganze Maß dieser Radikalität zu ermessen, müssen wir wiederentdecken, was Animismus wirklich bedeutet. (…) Der Animismus versteht, dass alle Wesen miteinander eine Welt hervorbringen, die beständig Leben schafft, und übernimmt Verantwortung dafür, diese kosmische Fruchtbarkeit fortbestehen zu lassen. Diese Verantwortung ist Teil eines Wissens über die Welt. Er versteht, dass der Kosmos nicht aus Dingen besteht, sondern aus Menschen und nichtmenschlichen Handelnden, die uns Menschen gleichen, weil sie wie wir nach Leben dürsten, ihre Bedürfnisse ausdrücken, und miteinander auskommen müssen.
„Animisten sind Menschen, die zur Kenntnis nehmen, dass die Welt voller Personen ist, von denen nur einige Menschen sind, und dass Leben immer in der Beziehung mit anderen gelebt wird“, beobachtet der Religionswissenschaftler und Anthropologe Graham Harvey und liefert damit die aktuell beste Definition des Grundprinzips animistischer, indigener Kosmologien.
In einem Kosmos der Beziehungen ist Gegenseitigkeit für das Gedeihen nicht nur nötig, sie ist von allen Seiten verlangt. In einer Welt der Beziehungen sind wir nicht atomistische Individuen, die gegeneinander aufgestellt sind, sondern bringen gemeinsam einen kohärenten Lebensprozess hervor. Das Kollektiv ist so wichtig wie das Individuum. Dieses Kollektiv ist nicht nur aus Menschen, sondern aus jedem Wesen und jeder Kraft der Realität zusammengesetzt. (…)
Es existiert folglich bereits eine Sichtweise, die das bröckelnde Imperium des Westens zu ersetzen vermag. Diese Sichtweise ist die Etikette der Gegenseitigkeit, die auf unbewusste Weise in Ökosystemen wirksam ist – und für die jene indigenen Gesellschaften kulturelle Institutionen erschaffen haben, die es vermochten, über lange Zeiten mit diesen Ökosystemen in Gegenseitigkeit zu leben. (…)
Zentrale Glaubensvorstellungen westlicher Denktraditionen
1. Ich bin, weil du nicht bist.
2. Egoismus ist der Kern unseres Wesens.
3. Die Realität besteht aus toter Materie.
4. Wir können die Realität allein durch Messen und Analyse verstehen.
5. Wir müssen unseren individuellen Tod vermeiden.
Zentrale Glaubensvorstellungen indigenen Denkens:
1. Ich bin, weil du bist.
2. Gegenseitigkeit macht das Sein möglich.
3. Alles ist lebendig.
4. Wir können die Realität durch fühlende Teilnahme verstehen.
5. Wir müssen die Welt fruchtbar halten.
Aus dem Text: Leben stiften in pandemischen Zeiten