Terra Nova

Warum folgen – oder bekämpfen – wir immer noch Autoritäten?

Aus einem Interview mit Dr. Hans-Joachim Maaz

Warum geben so viele Menschen ihre Verantwortung ab – an Führer, Autoritäten, Mehrheiten – warum spüren so wenige Menschen noch, was sie denken und wollen, und treten dafür ein?

Die Mehrzahl der Menschen will geführt sein. Ein Mensch bleibt abhängig, weil er kaum gefördert wurde in der Richtung: «Wer bist du? Wir wollen dich kennenlernen.» Meistens vermitteln die Eltern den Kindern: «Du bist gut oder liebenswert, wenn du so und so bist.» So lernt ein Kind nicht, sich selbst wahrzunehmen. Damit wird Abhängigkeit von der Meinung der Autoritäten – Eltern, Lehrer – erzeugt. Wenn Kinder trotzdem sagen: «Mir geht es so, ich möchte das…» – dann werden sie in aller Regel belehrt: «Nein, das ist nicht gut, das musst du anders sehen.» Es ist extrem selten, dass Eltern dem Kind vermitteln: «Ach, das ist ja interessant, so empfindest du das? Beschreib das mal weiter.»
Die meisten Menschen sind zu Abhängigkeit erzogen worden. Sie erleben das oft nicht einmal mehr als leidvoll. Denn dür sie ist es normal, das zu tun, was die Eltern, die Lehrer, der Mainstream sagt. Deshalb spreche ich von Normopathie: Das Gestörte wird für normal gehalten. Es machen ja alle so. Und dann kann es nicht falsch sein.
Das überträgt sich dann auch auf soziale Gruppen. Ich orientiere mich an denen, die mir was zu sagen haben oder die ich verehren kann. Wenn man zum Anhänger wird, hat man soziale Vorteile, gehört dazu, wird anerkannt.

Aber dann werden diese Idole auch bekämpft. Warum?

Wir haben entweder die begeisterten Mitläufer, die dann schnell auch zu Mittätern werden. Oder die, die dagegen sind. Die sind aber genauso abhängig. Aus verschiedenen persönlichen oder sozialen Gründen, die man analysieren kann, entwickeln sie Protest. Aber sie bleiben abhängig von dem, wogegen sie sind. Denn auch sie sind nicht bei sich selbst. Und dann gibt es Menschen, die vom Anhänger zum enttäuschten Verfolger werden. Das geschieht, wenn die Anhängerschaft, die man blind angenommen hatte, schmerzlich verletzt wird, z.B. durch eine Kränkung. Das ist wie bei einem Liebespaar: Wenn man verliebt ist, sieht man den Partner auch besser und schöner, als er ist. Wenn dann etwas schiefgeht, ist derselbe Mensch plötzlich schlecht, böse, wird beschimpft, bekämpft. Zunächst unberechtigte Verehrung und dann übertriebene Verurteilung. Das sind keine realen Anfechtungen, sondern Übertragungen von Sehnsüchten und Enttäuschungen aus frühen Lebenserfahrumgen
Das Bedürfnis nach Autonomie bleibt beim Anhänger lebendig, auch wenn es ihm nicht bewusst ist. Der getreueste Mitläufer hat in der Tiefe immer auch ein Dagegen. Und das kann dann auch kippen. Der abhängige, angepasste Mensch trägt also immer einen Dolch im Gewand. Denn der Frust darüber, dass man nie zur Autonomie gefunden hat, baut sich zur Enttäuschungs-Aggression auf. Doch die bleibt unbewusst – und dadurch gefährlich. Der Amoklauf ist ein Beispiel für die Reaktion auf übertriebene Anpassung. Wenn dann das Fass überläuft, zum Beispiel durch eine Kränkung, kann sich dieser Gefühlsstau in einer plötzlichen, aggressiven Reaktion entladen.

Das vollständige Interview mit Dr. Maaz wurde im neuesten «Zeitpunkt» veröffentlicht.

Hier kannst du den original Ausschnitt auch hören.

 

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