Von Sabine Lichtenfels
Der 22. November. Ich leitete auf einer Insel im Süden eine Gruppe von 18 Menschen. Wir befassten uns in dieser Gruppe besonders mit allen Fragen des Überlebens.
Es war Birgers Geburtstag. Birger ist ein kraftvoller junger Mann, der sich besonders gern mit Bewegung, Meditation und Konzentration befaßt. Morgens in einer stillen Morgeneinstimmung war mir der Gedanke gekommen, Birger zu seinem Geburtstag für eine Stunde die Leitung zu übergeben zum Thema: »Ihr bewegt falsch.« Vorher sprach ich zu »Gedanken zu einer zeitgemäßen Religion.«
Es wurde ein intensiver geistiger Vormittag. Unsere Gedanken bewegten sich um das Thema Gebetsforschung, um die Frage, wie entwickelt sich der Mensch zu einem bewußten Empfangs– und Sendeorgan für kosmische Informationen? Was geschieht, wenn ich bete? Wann kommt ein Gebet zu seiner Wirkung und findet Resonanz? Gibt es da überhaupt einen Zusammenhang? Durch was entstehen Kräfte des spirituellen oder kosmischen Vertrauens? Wo ist der Adressat, wenn ich bete? Wie und durch was entsteht Gott? Kann man heute überhaupt noch sinnvoll von der Existenz eines Gottes sprechen?
Birger freute sich sehr über sein »Geschenk« und hielt im Anschluß an meinen Vortrag eine einführende Rede.
Auch seine Studien zur Bewegungsforschung kreisten um verwandte Themen. Es ging um Absprung, Hingabe an etwas Größeres, Lust an der Konzentration und an der Hingabe an die Elemente. Es ging ihm um die richtige Bewegung als Durchlaufstation für universelle Kräfte und ihre Nutzung. »Da, wo der Sportler durch seine Bewegung ins Zentrum gelangt, da entsteht Ruhe, Sammlung, Liebe.«
Anschließend fuhren wir zu den Famarastränden. Dort machten wir eine gemeinsame Einstimmung, und Birger übernahm die Leitung. Wir beschlossen zu baden. Die Wellen rollten ziemlich kräftig. Mit lautem Getöse donnerten sie Richtung Ufer. In uns entstand Jubel und Vorfreude. Nach der langen gedanklichen Konzentration schrie es im Leib regelrecht nach Bewegung und körperlicher Tatkraft.
In mir tauchte zu Beginn eine leise warnende Stimme auf: »Wenn ihr jetzt zu übermütig in die Wellen steigt, dann seid ihr hinterher erschöpft. Ihr braucht aber heute noch eure Konzentration und Gedankenkraft, denn ihr wollt euch mit Apokalypse und Überlebenskraft befassen.«
Wir hatten ursprünglich vor, nach dem Bad in eine Höhle zu fahren und uns dort mit diesem Thema zu beschäftigen.
Aber die gegenwärtige Spannung und Vorfreude siegten. »Birgers Element ist das Wasser. Heute ist sein Geburtstag. Dem passen wir den Tag an«, so beruhigte ich mich selbst, um dann voll teilzunehmen.
»Jeder hat seinen richtigen Ort in den Wellen. Jeder soll nur soweit gehen, wie er sich dem gewachsen fühlt«, waren noch Birgers einleitende Worte, bevor wir gemeinsam ins Wasser stiegen. Die Freude, sich in die Brecher hineinzustürzen, war riesig. Alles jubelte den Wellen entgegen. Durch die gemeinsame Energie stieg auch der Mut, sich ganz hineinzubegeben. Die Wellen schlugen ziemlich kräftig gegen unsere Leiber, aber etwas wild sollte es ja ruhig zugehen. Immerhin ging es uns innerlich auch um einen gewissen Absprung und die Hingabe an das Element Wasser.
Die zweite warnende Stimme meldete sich bei mir, als ich Martina alleine ziemlich weit draußen sah. Ich kannte ihre Abenteurerseele, die sich furchtlos und damit oft auch leichtsinnig in alles Unbekannte stürzte. Ich selbst wußte aber, wie leicht hier Strömungen entstehen, die einen weit hinausziehen ins Meer und denen man mit eigener Kraft nicht gewachsen ist. »Bleibt in Birgers Nähe! Zieht nicht zu weit auseinander!« rief ich. Ich bewegte mich ihr nach, damit sie mich hören konnte. Intuitiv wollte ich verbindendes Element sein. Ich ließ dafür Happy und andere zurück, mit denen ich vorher zusammen war. Als Martina und Birger in meiner Nähe waren, schien alles wieder in Ordnung. Wir waren nicht mehr ganz so übermütig, aber immer noch bebten wir voller Erwartung den größten Brechern entgegen. Es schien, als könne man nicht genug kriegen davon.
Mit einem Male veränderte sich schlagartig die Situation. Irgendetwas hatte sich unmerklich über uns zusammengebraut. Die Brecher wurden immer größer und folgten immer schneller aufeinander. Dort, wo man vorher noch stehen konnte, wurde es auf einmal tief und bildete eine mächtige Strömung. Das, was zuvor noch wuchtig, aber absolut beherrschbar schien, wurde plötzlich fremd, übermächtig und gefährlich.
Mich packte nackte Angst, als die riesigen Brecher über mir zusammenschlugen. Sie donnerten mir gegen den Schädel, wirbelten mich durch, so daß ich eine Zeit lang nicht mehr wußte, wo oben und unten ist. Ich wollte nur noch eins, zurück ans Land. Niemand anders schien mehr erreichbar in meiner Nähe zu sein. Ich erfaßte sehr schnell, daß die Situation ernst war, nicht nur für mich. Ich fühlte, wie jetzt jeder allein mit den Wellen kämpfte. Aber die Kraft schwand schnell und immer mehr dahin. Schlappheit wollte alle meine Glieder erfassen, gleichzeitig bemerkte ich einen übermächtigen Sog, der mit ungeheuerlicher Kraft ins offene Meer hinauszog. Ich fühlte mich längst vollkommen kraftlos und hatte keine Ahnung, wie ich da jemals wieder an Land kommen könnte. Plötzlich fühlte ich etwas neben mir. Es war Birger. Er berührte meinen Fuß. »Ihr müßt schwimmen, nichts als schwimmen!« brüllte er mir zu. Das gab mir erneut einen Kraftstoß. Ich schwamm und schwamm. Ich schwamm um mein Leben. Als ich Martinas Gesicht plötzlich vor mir auftauchen sah, dann das Gesicht von Katja, da sah ich, die beiden standen in allerhöchster Lebensgefahr. Da war nur noch nackte Panik in ihren Gesichtern zu lesen, kein Wille mehr, keinerlei Kraft. In ihren Gesichtern lag etwas als hätten sie sich bereits ergeben, und ihre Panik schien nur noch der letzte Rest von Aufbäumen gegen den Tod.
In Sekundenschnelle schoß mir alles mögliche durch den Kopf. Ich sah Tausende von Ertrinkenden vor mir, Schiffbrüchige, die sich mit letzter Kraft an schwimmende Bretter krallten.
Und jetzt sollten wir genauso verschluckt werden wie Millionen von Menschen vor und nach uns? Ich fühlte, daß der Punkt dicht vor uns lag, an dem man einfach aufgibt. Ich fühlte regelrecht, wie es sich vorbereitete, wie in ein paar Sekunden die letzte Panik auch noch verschwinden würde und man sich dem Meer anheimgibt. Da wird plötzlich alles einfach und gut. Sollte das alles gewesen sein? Kommt so elementar und nüchtern und ohne Vorankündigung der Tod?
Wieder brach eine Welle genau über mir zusammen. Schonungslos wurde ich durch die tosenden Wogen gewirbelt. Da gab es kein Entrinnen. Und die letzten Gedanken schienen sich in immer rasenderer Geschwindigkeit als letzter geistiger Dom in mir aufzutürmen. Der Punkt der vollkommenen Aufgabe war beachtlich nahegerückt. Und damit schwand jede Panik und jede Angst.
Aber plötzlich braute sich in mir aus dieser Flut von Wahrnehmungen ein letzter aufbäumender Wille zusammen. »Gibt es noch irgendetwas, was ich tun kann?« Diese Frage bäumte sich in aller Heftigkeit noch einmal in mir auf. Aus der absoluten Unmöglichkeit heraus, noch irgendetwas aus eigener Kraft tun zu können, braute sich in mir etwas zu einem Gebet zusammen, zu dem brüllendsten Gebet, das ich je in meinem Leben gesprochen habe. »Bring uns hier raus! Und zwar alle! Wir haben noch etwas vor! Wir werden noch gebraucht! Das darf niemals unser Ende sein, von niemandem hier!«
Es brüllte in mir. Es schrie. Es wurde zwingend. Es war wie ein Befehl. Es war egal, zu wem ich betete, ob zu einem Gott in mir oder außerhalb von mir. Da gab es keine Zeit für Grübeleien oder Zweifel. Einen Gott außerhalb von mir konnte ich nicht finden. Ich wußte nur, daß ich beten mußte. Bete! Bete! Das ist im Moment deine einzige Kraftquelle. Das ist die einzige Rettungsmöglichkeit. »Das muß aufhören!« brüllte es aus mir.
Wieder packte mich eine Welle. Auf einmal fühlte ich mich von ihr aufgenommen. Ich fühlte mich wie gepackt und nach vorne geschleudert. Obwohl ich vorher am weitesten draußen war, befand ich mich, als ich wieder auftauchte, plötzlich einige Meter vor Katja und Martina. Ich wußte nicht, wie das geschehen war, aber ich erlebte es unmittelbar in Zusammenhang mit meinem Gebet. Ich fühlte, wie auf einmal wieder Kraft in mich einströmte, die Kraft des Vertrauens. »Ihr werdet es alle schaffen. Verbinde dich mit den anderen im Gebet«, meldete sich meine innere Stimme. Besonders fühlte ich die Not Charlys. »Du mußt beten«, rief es innerlich aus mir Charly zu. Es war wie Kommunikation unter Wasser. »Finde dein Vertrauen! Darin liegt im Moment die größte Rettungskraft.« Bei Katja und Martina fühlte ich, daß sie es mit Birgers Hilfe schaffen würden. Ich bemerkte, wie es jetzt leichter wurde, an Land zu kommen.
Als ich wieder Boden unter den Füßen hatte, schaute ich mich sofort nach den anderen um, um zu prüfen, ob alle an Land waren. Katja und Martina sah ich in Birgers Schlepptau kurz hinter mir an Land rudern. Ich suchte nach Charly. Da sah ich, wie hinten in den Wellen noch ein einzelner kämpfte, völlig verloren. »Der stirbt. Der schafft es nicht allein. Charly?« durchfuhr es mich wie ein Blitz. Ein eisiger Schreck packte mich. Sollten wir doch jemanden verlieren?
Aber meine innere Stimme beruhigte mich sofort. »Von Euch sind alle an Land. Es ist ein Fremder. Es ist der Einzige, der es nicht schafft. Er ist euch gefolgt. Aber er hat nicht die Kraft der Gemeinschaft. Er ist verloren.«
Ich schaute in Richtung Land um mich, ob ich irgendetwas Rettendes entdecken könnte. Ich sah, wie jeder von uns mit sich befaßt war, wie in einer Art Delirium, daß niemand die Kraft hatte, jetzt einen anderen zu retten.
»Was soll ich tun?«
»Tritt aus deinem Zweifel aus. Sieh richtig nach, ob jemand Kraft hat!«
»Kann ich es denn verantworten, jetzt jemanden zurückzuschicken in die Wellen?«
»Fühle, wer die Kraft hat!« Das war zwingend.
Mein Blick fiel auf Sam. Er schien ruhig und gesammelt. Ich lief zu ihm. »Da vorne stirbt jemand. Hast Du noch Kraft?« Ich fühlte seine Kraft. Aber die alleine würde nicht genügen. Birger kam gerade mit Martina aus den Wellen. Sie schien geistig gar nicht mehr anwesend.
»Birger, hast du noch Kraft? Da vorne ist jemand, der schafft es nicht mehr!«
Sam und Birger gingen gemeinsam zurück in das grauenvolle Ungeheuer.
»Dieser Wahnsinn muß aufhören,« brüllte ich. Ich war innerlich berührt und empört über die Tatsache, daß wir so grauenhaft einer Schöpfung mit den Elementen ausgeliefert sind, über die wir im Grunde nichts wissen. Ich lief verzweifelt auf und ab, abwägend, ob ich ein Rettungsboot besorgen könnte oder irgendetwas von der Art. Aber etwas beruhigte mich stark und fest, befahl mir ruhig zu werden. »Sie werden es schaffen. Hilf mit deiner Kraft der Sammlung und des Gebetes.«
Noch nie habe ich mich so militant gefühlt im Gebet. Noch nie war es mir so unwichtig, ob es einen Gott gibt oder nicht. Noch nie fühlte ich so zwingend die Entstehung einer universellen Unterstützung und Kraftquelle durch das Gebet als absolute Notwendigkeit.
Und ich bemerkte die unmittelbare Wirkung meines Gebetes. Es entstand Resonanz. Es war wie eine Offenbarung. Zum ersten Mal verstand ich die Doppeldeutigkeit des Wortes »Apokalypse«: Untergang und Offenbarung.
Und ich fühlte instantan die absolute Notwendigkeit zur Veränderung. Die Macht und das Ziel des Überlebens müssen höher und energievoller sein als die bestehenden Mächte der Vernichtung und Resignation. Nur durch die Verbindung und den Glauben an ein Ziel konnte ich so intensiv und zwingend beten. Die Macht des Todes steht deshalb so hoch, weil die Macht der Resignation so riesig ist.
»Wir werden noch gebraucht!« Das war die Öffnung in mein Gebet. Vertrauen zu finden und zu erzeugen, ist absolut zwingend, denn ohne das ist dauerhaft ein Überleben und eine Sinnfindung unmöglich.
Tatsächlich brachten sie den Mann zurück ans Land. Er war vollkommen willenlos, absolut apathisch. Er begriff nichts mehr von dem, was um ihn herum geschah. Man sah ihm an, daß er direkt mit dem Tod in Berührung gekommen war. Seine Frau, die die ganze Zeit vom Ufer aus zusah, hatte gar nicht begriffen, in welcher Gefahr er schwebte. Sie begriff erst jetzt.
Lange noch blieben wir am Strand. Jeder hatte seine eigene Art von Offenbarung gehabt. Es war, als würden wir nachträglich immer noch durchgespült, durch Wut, Entsetzen, Angst, Tränen, Apathie, Dankbarkeit, Erkenntnis.
Meine persönliche Offenbarung war die kurze Lichtung des Dauerschleiers, der uns alle vom Leben trennt. Ich erlebte das Gebet als Elementarkraft. Ich fühlte den Überlebenswillen, und ich fühlte die zwingende Notwendigkeit einer inneren Aufgabe, die dem Leben Sinn, Zukunft und Dauer verleiht.
Ich glaube, es gibt keine stärkere Überlebenskraft als die Liebe und den Willen zum Leben, aber zum vollgelebten Leben, nicht zum Dahinsiechen unter lauter Anstandsregeln und Gesetzen, die uns vor dem Leben schützen.
Angesichts des Todes erscheint das Leben, das wir bisher geführt haben, ziemlich seicht, ein ewig dahinvegetierender Halbschlaf, in dem sich das nicht gelebte Leben hauptsächlich in Träumen und Hoffnungen abspielt. Diese Elementarkraft, die mit ungeheurer Präsenz kurz den Leib und den Geist erfaßt, die das Dasein selbst aus einem vollkommen neuen Licht aufleuchten läßt, kann doch nicht nur für Sekunden vor dem Tod aufgespart werden. Sie kann doch nicht nur in höchst angespannten Situationen der Not auftreten.
Es wird eine Quelle frei, vor der der Mensch sich schützt, und die er gleichzeitig ungeheuer liebt. An der Grenze des Todes meldet sich das nichtgelebte Leben. Hier zeigt sich elementar, zu welcher Kraft und Geistesgegenwärtigkeit der Mensch fähig ist. Die Suche nach diesem Daseinszustand läßt den Menschen in die wahnwitzigsten Abenteuer ziehen, sie läßt ihn die höchsten Berge ohne Sauerstoffmaske erklimmen, sie zieht ihn auch in den Krieg unter Einsatz seines Lebens. Aber diesen Zustand tatsächlich hineinzuholen ins Leben, umzusetzen in die eigene Lebenspraxis, in die soziale Gestaltung im Umgang untereinander, das ist bis heute gescheitert an unserer Phantasielosigkeit und den Strukturen einer falsch konstruierten Gesellschaft. Hier wird nicht gelebt, sondern gelitten, geduldet und das ewige Konsensspiel betrieben. Sollten wir nicht in der Lage sein, diese Elementarkraft in uns wachzurufen für eine Veränderung unserer Lebenspraxis und unserer Umwelt?
Für mich hat dieses Erlebnis eine Weiche gestellt in meinem Leben. Es hat meinen unendlichen Lebenshunger wieder in Erinnerung gerufen und geweckt. Es hat mich vor die Notwendigkeit gestellt, über die Elementarkräfte, die uns umgeben, mehr zu erfahren und zu wissen und die mögliche Kooperation zu eröffnen und zu erforschen. Es hat meinen Hunger nach Kommunikation, Geist, Sex, Daseinsfreude geweckt und erneut ins Bewußtsein gerufen. Ich kann es nicht ewig weiter auf die lange Bank schieben. Ich werde meine Intelligenz und Liebe und auch meine Wut einsetzen, um Wege zu finden.
Zum Sterben bleibt noch soviel Zeit…