Terra Nova

Bankrott und Wiederentdeckung des Geistes

Auszug aus dem Buch „Aufbruch zur neuen Kultur“ von Dieter Duhm

Es ist schwierig, von »Geistigem« zu sprechen in einer Zeit, wo gerade die Entschlossensten den falschen Zungenschlag entdeckt haben, der fast immer darin liegt. Wir haben den Vertretern des Geistes unter die Röcke geschaut und sind skeptisch geworden. Es gab bislang noch kaum ein Plädoyer für die Geistigkeit des Menschen, das nicht bewusst oder unbewusst die Funktion hatte, abzulenken von seiner unbewältigten Animalität und von den eigenen menschlich-allzumenschlichen Schwierigkeiten. Die philosophische, die spirituelle und besonders die okkulte Welt ist umgeben vom Moderduft ungelüfteter, in dunklen Kellerlöchern gärender Emotionen und Bedürfnisse. Das fast vollständige Fehlen wirklicher geistiger Kommunikationsformen in unserer Zeit erklärt sich in erster Linie daraus, dass die schönen Worte, noch ehe sie den Mund verlassen haben, schon im Dienste einer Sache stehen, die wir heute getrost als »Lebenslüge« be- zeichnen dürfen. Man glaubt ihnen deshalb nicht mehr. Die Kraft der Gedanken, der Sprache, der Theorie, der geistigen Inspiration ist im öffentlichen Verkehr der heutigen Menschen durch einen allgemeinen Verlust von Glaubwürdigkeit zugrunde gegangen.
Trotzdem wird sich die keimende neue Kultur – als Antwort auf die materialistische Epoche – zunehmend auf die Bedeutung geistiger Vorgänge konzentrieren. Mit Recht können wir zwar sagen, dass die bevorstehende Kulturrevolution eine biologische sein wird, weil es ja um die Wiedergewinnung unserer äußeren und vor allem unserer inneren Lebensquellen geht und um eine organgesetzliche Gestaltung unserer Umwelt… dieses ganze Buch dient ja dem einzigen Zweck, diesen Satz mit Inhalt zu füllen. Aber sinnvoll und fortschrittlich im Sinne unserer geschichtlichen Evolution ist dieser Satz nur in dem Maße, wie dabei auch der andere mitgedacht wird: dass nämlich die bevorstehende kulturelle Erneuerung eine geistige sein muss.
Zwischen diesen beiden Sätzen gibt es kein Prioritätsverhältnis, sie sind ebenbürtig und gehören zusammen. Ohne geistige Veränderung und Steigerung sind die biologischen Lebensquellen weder zu finden noch zu erschließen. Indem wir sie aber finden und erschließen, werden wir mit wachsender Klarheit die Entdeckung machen, mit der heute schon so viele von uns schwanger gehen: die Entdeckung der geistigen Natur der Lebensvorgänge und der Weltenergien. In der Entdeckung des Lebendigen steckt eine spirituelle Erfahrung, die von selbst die Brücken schlagen könnte zwischen den weltanschaulichen Fraktionen unserer Zeit.
Die Widerstandskraft gegen Schmerz und die Fähigkeit, ihn in Willen zu transformieren, hängen u.a. von der Kraft und Sicherheit einer geistigen Orientierung ab. Der Verlust von geistiger Identität und Orientierung führt bei vielen Zeitgenossen zu einem inneren Passivitätszustand, der früher oder später ihre Belastbarkeitsgrenze übersteigt. Daraus vor allem ist jener heilsideologische Heißhunger entstanden, der Entwicklungen überspringen will, weil keine Kraft mehr da ist zum Warten und kein Sinn mehr für natürliche Entwicklungsgeschwindigkeiten. Eine hemmungslose Ungeduld möchte jeden Gedanken und jedes geistige Morgenlicht sofort ins »Konkrete« und »Praktische« übersetzen. Diese fatalen Begriffe des Konkreten und der Praxis! Wie handlich und wie leicht verdaulich muss ein Gedanke sein, damit er überhaupt gehört wird! Das vielberedete Verhältnis von Theorie und Praxis… und die Verflachung der Theorie, die daraus resul- tierte… und die entsprechende Verflachung der Praxis…
Auf eigentümliche Weise werden so die neuen Kategorien verschleudert, die eigentlich Großes ankündigen könnten. Etwa die Kategorie der Psychoanalyse, der Bioenergetik, der Ökologie und der neuen Religiosität. Kaum sind sie ans Tageslicht gekommen – ihre Tiefe und ihr Ausmaß ist noch gar nicht sichtbar –, da benutzt man sie, die eigentlich auf das Ausmaß einer Welt zugeschnitten sind, sogleich zum Ausbau der eigenen kleinen Hütte. Es geht aber heute um den Wiederaufbau der Erde.
Tiefe Entwicklungen kommen leise und mit langsamen Gang. Gerade weil die Erde einem Pulverfass gleicht, empfiehlt sich Ruhe im Aktivismus. Ruhe und die Meditation des Schauens, ohne gleich unsere ganze Breitseite von Zielen, Ängsten, Wünschen, Urteilen und Anklagen auf die Welt abzuschießen. Ist es nicht vielleicht doch so, nach allem Tumult um die verlorene Spontaneität, dass die tiefsten Energien, Wahrnehmungen und Schöpfungen aus einer Zone des Schweigens kommen? Wir spannen einen Gedanken, eine Saite, eine Liebe in uns, bis sie die Welt zu berühren scheint. Am Berührungspunkt die unmissverständliche Erfahrung von Kraft, Identität und Sinn. Regionen, wo die Chiffren dieser Welt heller und transparenter werden, wo sich alle Sinne spitzen, weil uns etwas mit Ahnung, Erwartung, Erstaunen und Dankbarkeit erfüllt. Zeugnisse davon bei Nietzsche und Teilhard de Chardin.

 

 


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