Tagebuch einer schwankenden Idealistin, Teil 1
„Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen“, schrieb Etty Hillesum in einem Zwischenlager während des zweiten Weltkriegs. Doch was bedeutet es, in uns selbst die Güte zu erobern? Wie geht das und woran erkennen wir, ob es etwas bringt?
Elisa Gratias sieht sich als Friedensarbeiterin im Alltag. Wir sind umgeben von Menschen. Und doch scheint es, als lebten wir alle in verschiedenen Welten, wenn auch unsere Körper durch dieselben Straßen laufen. Was geht in all den anderen vor? Das wird sie in den meisten Fällen niemals erfahren. Dafür teilt sie, was in ihr vorgeht, und beschreibt, wie sie ihre innere Friedensarbeit inmitten der Konsumgesellschaft gestaltet.
Rita
Ihre Füße sind geschwollen und trocken. Sie ragen aus den Schuhen heraus. Hat sie Schmerzen? Die Frau muss doch Schmerzen haben. Ich traue mich nicht, sie anzusprechen. Setze mich mit einem Meter Abstand neben sie auf die lange Bank im Busbahnhof. Immer wieder blicke ich in ihre Richtung. Sie ist dick und ihre Kleidung scheint sauber. Auch die Hände und Fingernägel. Dennoch erweckt sie den Eindruck, sie sei obdachlos. Ihre grauen, schulterlangen Haare sind auch sauber. Ihr Gesichtsausdruck ist irgendwie anders. Zu ihren Füßen stehen zwei große Einkaufsbeutel voller Kram, auf einem liegt eine gefaltete Zeitungsseite.
Als ich wieder in ihre Richtung sehe, sagt sie etwas, doch ich verstehe sie kaum. Sie zeigt mit dem Kopf zum Bus. Eine Werbung. „Der Moment ist jetzt,“ steht darauf. Ist sie ein Engel wie im Roman „Der Weg des friedvollen Kriegers“? Wieder sagt sie etwas. Traube.
Traube? Ich sehe einen Mann und zwei Kinder auf dem Busplakat. Ein Mädchen sitzt auf dem Tisch. Dann holt die Frau neben mir eine Tetra-Packung Weißwein aus ihrer Tasche und zeigt auf die hellen Trauben. Erst jetzt sehe ich, dass das Mädchen aus der Werbung einen kleinen Teller vor sich stehen hat, auf dem eine einzelne Weintraube liegt, die ich gar nicht gesehen hatte.
Die Frau neben mir lacht. „Sie hat die Traube gestohlen.“ Ich verstehe nicht, was sie meint, aber lache kurz mit. Wir kommen ins Gespräch. Sie fragt, ob ich in Palma wohne und ich antworte, dass ich in Andratx lebe. Als ich sie frage, wo sie wohnt, sagt sie „nirgendwo“. Mein Eindruck war also richtig.
Ich werde nervös. Denke, ich sollte ihr anbieten, mit zu mir zu kommen, aber traue mich nicht. Sie macht mir Angst. Und was würden meine Mitbewohnerinnen sagen? Und was, wenn sie verrückt ist? Auf einmal schrecke ich hoch, denn mein Bus ist kurz vor der Abfahrt. Ich unterbreche sie in ihrer Erzählung, frage sie kurz nach ihrem Namen, nenne meinen und verabschiede mich schnell.
Aufgewühlt nehme ich im Bus Platz und drehe mich noch einmal zu ihr um. Hinter dem Fenster winkt sie mir mit zwei weißen Taschentüchern. Ich winke zurück und lächle, während mir die Tränen kommen. Weine ich wirklich wegen ihr oder wegen all der anderen Dinge in meinem Leben? Meinem kaputten Auto, meinem Exfreund, meinen ständigen Schuldgefühlen, die immer wieder extremen Stress in mir auslösen?
Ich weiß es nicht.
Aus Reflex ziehe ich das Handy aus der Tasche. Eine Nachricht von meinem Freund Henry. Ich teile mich ihm mit und er schreibt: „Fühle den Weltschmerz. Er ist universell und persönlich und deshalb auch gar nicht trennbar.“
Ich möchte an eine Welt glauben, in der wir niemanden so leben lassen. Wie kann ich an diese andere Welt glauben, wenn ich selbst nicht in der Lage bin, ihr gemäß zu leben?
Ich versuche, nicht ins Drama der Selbstkasteiung abzuschweifen. Immerhin. Ich lasse die Tränen einfach laufen. Ich schluchze. Frage mich kurz, ob das die anderen Fahrgäste stört. Aber endlich ist mir mal egal, was andere denken, und so fliegt auch dieser Gedanke schnell weiter.
Ich fühle mich wie ein kleines Häufchen Elend. Wie ein frierendes Kind, das sich danach sehnt, in wärmenden Armen gewiegt zu werden. Ach, diese Verletzlichkeit. Ich schäme mich, sie zu fühlen, sie zur Schau zu tragen und dann doch nichts an den Umständen in der Welt zu ändern.
Halt.
Byron Katie fragt in „The Work“ ihre berühmte Frage: „Stimmt das wirklich?“ Bevor ich nun also doch, beinahe unbemerkt, wieder in die Selbstvorwürfe abdrifte, frage ich mich, ob es wirklich stimmt, dass ich mit meiner Verletzlichkeit nichts an den Umständen in der Welt ändere? Rita hat mir mit ihren Taschentüchern so fröhlich, ja herrlich theatralisch, zugewunken. Sie hat mein Herz geöffnet, und vielleicht habe ich auch ihr ein wenig menschliche Wärme geben können, indem wir uns zumindest kurz unterhielten?
Wie können wir bei allem, was wir in den Nachrichten erfahren und im Alltag um uns herum bezeugen, an den Frieden und eine menschliche Welt glauben? Was tun, wenn dieser Glaube bröckelt?
Auch hier hilft Henry mir und fragt umgekehrt:
„Was für eine Alternative zum Glauben an eine menschliche Welt haben wir? Und wie würde sie aussehen?“
Finster auf jeden Fall, sagt ein erster Gedanke. Wie ein traumloser Schlaf im Idealfall. Im Herzen weiß ich, es gibt keine Alternative. Stimmt. Im salzigen Tränengesicht ein Hauch von einem Lächeln und der Gedanke: „Mist, ich habe eh keine Alternative“, der mich heute liebevoll aus dem Drama herausgeleitet.
Ich schwanke immer wieder zwischen Zweifeln und Vertrauen. Die Zweifel schwinden in dem Maß, wie ich selbst den Frieden lebe. Vor allem auch mir selbst gegenüber. Und so übe ich mich heute in Dankbarkeit darüber, dass mein Herz offen ist und bleibt, auch wenn es dadurch vieles an sich heranlässt, das schwer auf ihm lastet.
„In unserer alltäglichen Wirklichkeit schotten wir uns gegen beide Seiten ab, sowohl gegen die Wahrheit des Opfers, als auch gegen die Seite des Täters, und stülpen sofort unsere Weltanschauung darüber. Hauptsache, unser Weltbild stimmt. Das ist unser Schutz vor wirklicher Berührung. Nur, weil wir schon so verschlossen sind, können wir überhaupt noch die Nachrichten ertragen. Wir sind erleichtert, wenn wir die Guten und die Bösen unterscheiden können.
Dann leben wir uns gepflegtes Alltagsleben, und wenn wir irgendwo einen sozialen Aspekt in unserem Leben eingebaut haben, halten wir uns für gute Menschen. Auf diese Weise entsteht der schleichende Faschismus unserer Zeit: die Gleichgültigkeit“ (Sabine Lichtenfels – „Grace“).
Ich sehe es nun also als Friedenstraining für den Alltag: Lassen wir uns berühren, gerade dann, wenn es wehtut, wenn Ohnmacht und Selbstvorwürfe schon bereit stehen, um in unserem Inneren zu wüten. Beobachten wir sie und achten wir darauf, immer wieder ins Gefühl zurückzukommen, damit unser Herz offenbleibt. Als Einzelpersonen können wir die Obdachlosen vielleicht nicht aus ihrer schlimmen Lage befreien, aber wir können ihnen in die Augen sehen und sie als Menschen wahrnehmen.
„Hunger nach Leben, Hunger nach Liebe, Hunger nach Vertrauen und Heimat, Hunger nach Anerkennung, Hunger danach, gesehen und verstanden zu werden. Dieser Hunger ist unabhängig von jeder Kultur. Er ist einfach da, in jedem Menschen, so wahr er noch Mensch geblieben ist“ (Sabine Lichtenfels – „Grace“).