Terra Nova

Getrenntsein ist eine Illusion


von David R. Loy

Buddha lebte vor mindestens 2.400 Jahren. Kann uns der Buddhismus also wirklich dabei helfen, die heutigen gesellschaftlichen Probleme wie wirtschaftliche Globalisierung und Biotechnologie, Krieg, Terrorismus (und Krieg gegen den Terrorismus), Klimawandel und andere ökologische Krisen zu verstehen und darauf zu reagieren?
Was Buddha verstanden hat, ist menschliches Dukkha: wie es funktioniert, was es verursacht und wie man es beenden kann. Dukkha wird gewöhnlich mit „Leiden“ übersetzt. Aber Dukkha besagt auch, dass selbst diejenigen, die wohlhabend und gesund sind, eine grundlegende Unzufriedenheit, ein Unwohlsein, erfahren. Wir empfinden das Leben als unbefriedigend. Das ist kein Zufall, denn es liegt in der Natur unseres unerweckten Geistes, sich über etwas aufzuregen.

Unser gewohntes Selbstempfinden, unser Selbstsinn, ist ein Konstrukt, hat also keine reale Entsprechung. Das macht unser Selbst von Natur aus ängstlich und unsicher: weil es nichts gibt, was gesichert werden könnte. Das Selbst erfährt diese Bodenlosigkeit meist als Mangel: Als Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt. Es ist ein grundlegendes Unbehagen, das oft als „Ich bin nicht genug“ erlebt wird. Bedauerlicherweise verstehen wir dieses Unwohlsein oft falsch. Wir versuchen, uns abzusichern, indem wir uns mit Dingen außerhalb von uns identifizieren, die (so glauben wir) den festen Boden bieten können, nach dem wir uns sehnen: Geld, Besitztümer, Ansehen, Macht, körperliche Attraktivität und so weiter. Da nichts davon den Selbstsinn tatsächlich verankern oder absichern kann, egal wie viel Geld oder Ähnliches wir anhäufen, scheint es nie genug zu sein.
Die buddhistische Lösung für dieses Dilemma ist nicht, das Selbst loszuwerden, denn da gibt es nichts loszuwerden. Wie oben erwähnt, muss das Empfinden eines Selbst dekonstruiert werden (in der Meditation: „vergessen“) und neu rekonstruiert werden (wobei Großzügigkeit, liebende Güte und die Weisheit, die unsere gegenseitige Abhängigkeit erkennt, die drei Gifte Gier, Böswilligkeit und Ignoranz ersetzen). Auf diese Weise können wir die Illusion des Getrenntseins durchschauen. Wenn ich selbst nicht irgendetwas im Inneren bin (hinter den Augen oder zwischen den Ohren), dann ist das Äußere nicht außen.
Seltsamerweise entspricht diese buddhistische Sicht auf unser individuelles Dilemma genau unserer aktuellen ökologischen Situation. Wir haben nicht nur als Individuen eine Wahrnehmung von Selbst, sondern wir haben auch kollektive „Selbste“, und die Formel „getrenntes Selbst = dukkha oder Leiden“ gilt auch für unsere umfassendste kollektive Selbstwahrnehmung: die Dualität zwischen uns als Spezies, dem Homo sapiens sapiens, und dem Rest der Biosphäre. Wie der persönliche Selbstsinn ist auch die menschliche Zivilisation ein Konstrukt, das ein kollektives Gefühl der Entfremdung von der natürlichen Welt mit sich bringt. Und das wiederum erzeugt Angst und Verwirrung in Bezug darauf, was es heißt, Mensch zu sein. Unsere vorherrschende Antwort auf diese Angst – der kollektive Versuch, uns mit wirtschaftlichem Wachstum und technologischer Entwicklung („Fortschritt“) abzusichern – macht die Dinge sogar noch schlimmer, weil sie unsere Trennung von der Erde verstärkt. Ebenso wie es kein Selbst gibt, das wir loswerden könnten, können wir nicht „zur Natur zurückkehren“, weil wir nie von ihr getrennt waren. Aber wir können unser Nicht-Getrenntsein von ihr erkennen und anfangen, in einer Weise zu leben, die mit dieser Einsicht übereinstimmt.

Aus dem Buch: Ökodharma, von David R. Loy

David R. Loy aus den USA, 77, war Anti-Vietnam-Aktivist und später Professor für Philosophie und Buddhismus in Boulder, Colorado. Im Versuch, Aktivismus und Buddhismus zu verbinden, gründete er mit anderen das Ecodharma-Zentrum in den Rocky Mountains, das den Bodhisatva-Weg lehrt: die eigene Heilung und die Heilung der Erde. Dazu erschien auch sein Buch: «Öko-Dharma – Buddhistische Perspektiven zur ökologischen Krise».

Hier kannst du mein Interview mit ihm nachlesen

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