Dieter Duhm mit Tochter Mara (Archivbild)
Überwältigende Szenen spielen sich ab, wenn Frauen in einer Gruppe offen über ihre Liebe zu ihren Vätern sprechen. Fast jede Frau in unseren Kreisen hatte als Kind eine starke Beziehung zu ihrem Vater, sie taten nichts lieber, als auf seinem Schoß zu sitzen, seinen Erzählungen zuzuhören oder sich seinen Schmeicheleien hinzugeben. Auch im Erwachsenenalter kann die Liebe eines Mannes eine Frau beflügeln. Bewusst oder unbewusst sucht und liebt die erwachsene Frau im Mann ähnliche Züge, die sie als Kind bei ihrem Vater geliebt hat. Der Mann, der keine Ahnung von diesen Dingen hat, wundert sich dann über ihre übertriebene Anhänglichkeit oder ihre aggressiven Reaktionen. Er kann ja dieses Vater- Imago in den meisten Fällen gar nicht erfüllen, denn er ist ja selbst noch ein Sohn-Mann, der in ihr die Mutter sucht. Eine fatale Situation. Zwei erwachsene Liebende, eine Frau und ein Mann, kommen zusammen, sie begegnet ihm als Tochter und sucht den starken Mann; er begegnet ihr als Sohn und sucht in ihr die Mutter. Das passt nicht gut zusammen. Es reibt und knirscht dauernd zwischen ihnen, und sie wissen nicht warum. Ist das Patriarchat daran schuld, die gesellschaftliche Dominanz der Männer, die Lehre vom allmächtigen Vatergott – oder steckt mehr dahinter?
Es gab in unserer Gemeinschaft eine Zeit, da wollten wir keine männlichen Gottheiten mehr haben. Auch die Religion sollte sich aus der patriarchalen Klammer befreien. Statt Gott sagten wir Göttin. Dann kam eine mutige Frau und protestierte gegen diese Verwandlung. Sie wollte den männlichen Gott, den Vater, den Erlöser. Warum wollte sie das? Sie hatte als kleines Mädchen – wie die meisten Mädchen – eine tiefe Beziehung zu ihrem Vater. Er war das Oberhaupt der Familie, er schien alles zu wissen und zu können, war immer mit wichtigen Dingen befasst und nur selten zu Hause. Dadurch war der weiblichen Projektion Tür und Tor geöffnet. Der Vater: Das war der Inbegriff von männlicher Kraft und Weisheit, ein Pol der ewigen Sehnsucht. So entstand im Laufe der patriarchalen Geschichte ein übermächtiges Vater-Imago, welches heute unbewusst in allen Frauen wirkt, wenn sie auf der Suche sind nach ihrem Prinzen, nach dem starken Mann, in dessen Armen sie geborgen sind.
Wir erkennen heute diese Zusammenhänge ohne Verachtung und Ironie, denn es sind die realen Zusammenhänge einer archetypischen Seelenwelt zwischen den Geschlechtern. Das positive Vaterbild ist ja nicht nur die Folge einer patriarchalen Fehlentwicklung, sondern es ist verankert in der seelischen Architektur aller Menschen, nicht nur der Frauen. Aber in der weiblichen Seele ist es verbunden mit einer tiefen Sehnsucht nach Hingabe. So konnte Mechthild von Magdeburg sagen: „Herr, minne mich, minne mich lang …“ Es ist tatsächlich ein Urwunsch der weiblichen Seele. Es wird eine Zeit kommen, in der emanzipierte Männer in der Lage sind, diesen weiblichen Wunsch ohne Verachtung, ohne Missbrauch und Erniedrigung zu erkennen, zu lieben und zu erfüllen. Und es wird eine Zeit kommen, in der emanzipierte Frauen sich gern in die Hände der neuen Männer begeben. Denn beide Geschlechter gehören für immer zusammen, ein Teil der weiblichen Heimat liegt beim Mann – und ein großer Teil der männlichen Heimat liegt bei der Frau. Das sind die Strukturen des Lebens im Heilungsraum der heiligen Matrix.
Moderne Frauen haben viel unternommen, um die weibliche Seele vom Wunsch nach dem Mann zu befreien. Aber auch sie haben einst diese männliche Autorität, die sie heute bekämpfen, geliebt und verehrt. Hätten sie einen Vater gehabt, der sie außerhalb aller patriarchalen Strukturen beschützt und geliebt hätte, so wären wir heute in einer ganz anderen Emanzipationsdebatte. Es wäre wohl auch ein politischer Feminismus entstanden, aber ein anderer, der sich nicht mehr gegen den Mann richtet, sondern gegen ein System, in dem keine liebende Männlichkeit und keine liebende Weiblichkeit möglich war. Die Wut vieler Frauen auf den Mann ist die Folge einer Welt, in der es noch keine Männer gab, denen sie vorbehaltlos hätten vertrauen können. Der Mann, den Frau dauerhaft hätte lieben können, war auf Erden noch kaum existent. Denn umgekehrt hatten ja die Männer mit den Frauen ein vergleichbares Problem (siehe voriges Kapitel). Sie waren Sohn-Männer und deshalb noch kaum in der Lage, dieses positive Mannesbild zu präsentieren. Hinter dem Kampf der Geschlechter spielt sich immer dieselbe Tragödie ab, dass wir etwas im anderen suchen, was dort nicht zu finden ist. Erst durch Bewusstwerdung dieser Hintergründe und den Aufbau neuer sozialer Systeme, in denen diese Themen im Schutz der Gemeinschaft gesehen werden können, wird sich dieses Drama lösen lassen. Intelligente Menschen fangen an, auf diese ganze Situation nicht mehr mit privater Wut oder Resignation zu reagieren, sondern mit Erkenntnis, Vertrauen und tiefer Solidarität.
Heute gibt es eine wachsende Anzahl von Gruppen und Gemeinschaften auf der Erde, in denen das Thema viel tiefer gesehen und gelebt wird als in der Welt der Medien und öffentlichen Diskussionen. Beide Geschlechter, die Frauen wie die Männer, befinden sich heute in einer inneren Entwicklung, die sie befähigt, die genannten traumatischen Zusammenhänge zu erkennen und aufzulösen. Erst wenn beide Geschlechter in der Lage sind, sich ohne falsche Überhöhung und ohne familiäre Wutgeschichten auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, kann diese verdrehte Welt in Ordnung kommen.
Aus dem Buch „Und sie erkannten sich. Das Ende der sexuellen Gewalt“ von Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels