Terra Nova

Das Konzil der Göttinnen


Ein Märchen

Es war einmal ein Universum inmitten vieler Universen. In diesem Universum sollte ein großer Traum verwirklicht werden. Diese Aufgabe wurde einem großen Kreis von Göttinnen übertragen. Sie versprachen ihr Bestes und machten sich mit Unterstützung vieler Götter begeistert an die Arbeit. Sie beschlossen, eine leuchtende Sonne ins Zentrum zu setzen, die mit ihren Strahlen alles erwärmen und erhellen sollte. Sie schufen Milliarden von Galaxien und Abermilliarden von Planetensystemen, die in präziser Ordnung umeinander wirbelten und kreisten, um an einem bestimmten Punkt in diesem Universum einen wunderschönen Planeten hervorzubringen. Es war einer der schönsten im ganzen Universum. Er war ihr Juwel. Sie ließen das Wasser auf ihm heimisch werden, so dass der Planet bis ins weite All in den Farben des Wassers, in Weiß und tiefem Blau leuchtete. Sie nannten ihn den „blauen Planeten“. Sie hatten ihn für die Fülle erschaffen, für die Liebe, für das üppige, blühende Leben, für grüne Auen, glitzernde Seen und Bäche, rauschende Wälder und weite Ozeane. Er sollte unzähliges Leben beherbergen, die zusammen eine einzige große Lebensfamilie bildeten, die sich vom Meeresgrund bis in die hohen Lüfte entfalten, miteinander singen und schwingen sollte. Das schönste aber war, dass sich auf ihm auch eine Spezies entwickeln sollte – man nannte sie die Kinder der Göttin – die über alles Leben wachen, es behüten, ja, sogar in Kooperation mit den Göttinnen weiterentwickeln sollte. Diese Kinder wurden als die Ebenbilder der Göttinnen erschaffen. Sie waren schön und aufrecht, kraftvoll und unendlich weise. Ihnen wurden die höchsten Güter anvertraut, die es in diesem Universum gab: die Gabe der Liebe und die Gabe der Intelligenz. Der Planet entwickelte sich prächtig, viel schöner noch, als es im Traum erschienen war.

Doch dann geschah etwas Schreckliches. Eines Tages wurde ein böser Fluch über den blauen Planeten verhängt. Niemand wusste, warum das geschehen war und wer es getan hatte. Den Kindern der Göttin wurde die Erinnerung geraubt an sich selbst, an ihre Herkunft und an die große Aufgabe, die ihnen anvertraut worden war. Und damit sie diese Erinnerung auch niemals wiederfänden, wurden ihnen zwei hypnotische Befehle eingegeben. „Ihr dürft nie mehr denken und wer es dennoch tut, muss hart bestrafen werden!“ befahlen sie und grinsten: „So können die Kinder nie herausfinden, wer wir sind und warum sie unseren Befehlen so bedingungslos folgen!“ Zum anderen sollten die Kinder die sinnliche Liebe zur Sünde erklären und das Heilige in ein fernes Jenseits verbannen. „So werden sie hasserfüllt und böse werden!“ sagten sie und rieben sich die Hände. Es war ein schlimmer Schlag. Die Kinder standen unter Schock. Aber sie wussten nicht, warum. Ein unendlicher Schmerz hatte sie ergriffen, aber sie wussten nicht warum. In ihrer Not begannen sie, einander zu beschuldigen und zu bekämpfen. Im Verlauf der Zeit taten sie sich immer fürchterlichere Dinge an. Sie metzelten, folterten, schlachteten, versklavten und unterdrückten einander. Sie planten Feldzüge und verheerende Kriege und führten sie gnadenlos durch. Nichts, was ihnen in den Sinn kam, schien abwegig genug zu sein, um nicht getan zu werden. Sie ließen das Land verdorren, streuten Gifte aus, quälten und zerstörten alles Leben. Sie entwickelten allem gegenüber eine große Gleichgültigkeit und behaupteten, sie könnten nichts dagegen tun. So zu sein, sei eben ihre Natur. Alle hatten zu lügen begonnen.

Die Göttinnen umkreisten ihren geliebten Planeten und versuchten alles, um den Fluch aufzulösen und zu helfen. Die Göttin der Träume versuchte die Kinder im Schlaf zu erinnern. Die Kinder träumten von der Liebe und einem Land, in dem Löwe und Lamm friedlich beieinander liegen. „Ich habe vom Paradies geträumt,“ erzählten sie am nächsten Morgen, aber vergassen den Traum auch gleich wieder. Die Göttin der Musik ersann die schönsten Melodien und ließ sie über dem Planeten erklingen. Einige begabte Kinder hörten sie, setzten sie um in gewaltige Sinfonien und Lieder, die alle Kinder für einen Moment verzauberten. Aber die Erinnerung kam nicht zurück. Die Göttin der Liebe verstärkte die Sehnsucht in den Herzen der Kinder. Wer davon erreicht wurde, begann zu helfen, verteilte Brot an die Armen und Obdachlosen, baute Krankenhäuser, befreite Tiere oder entwickelte Lösungen für die vielen Probleme, die sich überall ausgebreitet hatten. Sie arbeiteten bis an der Rand der Erschöpfung, aber die Not wurde immer größer. Die Göttin der Intelligenz wirkte auf die Denkerinnen und Denker unter ihren Kindern ein und flößte ihnen den Mut ein, trotz des Verbots ihre Gedanken zu veröffentlichen. Doch die Strafen waren furchtbar. Die Kinder wurden am lebendigen Leib verbrannt, in Kerker gesperrt und aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Es war ein schreckliches Los. Die Göttin der Kraft kam auf die Idee, die Kinder wundervolle Leistungen vollbringen zu lassen. Sie sollten vorführen, welche unbegrenzten Fähigkeiten ihrer Spezies zur Verfügung stand. Und die Kinder tanzten auf dem Hochseil, sprangen über Dächer, tauchten ohne Sauerstoffgeräte in die Tiefe oder fuhren mit einem Tretboot über die Ozeane. Ihre Leistungen wurden bewundert, aber sie regten nicht zum Nachdenken an. Alles blieb beim Alten. Die Göttin der großen Heilkraft übertrug ihre Gabe auf einige ihrer heilbegabten Kinder, die dann selbst Heilungskräfte in Bewegung setzen konnten. Sie machten Blinde sehend und vermochten sogar Tote wieder zum Leben zu erwecken. Doch niemand wunderte sich darüber. Der Bann konnte durch nichts gebrochen werden. Die Göttinnen begannen, langsam zu verzweifeln.

Schließlich riefen sie ein Konzil ein, um sich zu beraten. Sie luden sogar Kräfte aus anderen Universen dazu ein. Sie trugen alles Wissen zusammen, das ihnen zur Verfügung stand, fügten ihre ganze Liebe hinzu, ihre Anmut und Gnade, ihre Weitsicht und ihren Humor. Und sie bekamen eine Idee. Es war ein genialer Plan. Sie durchdachten ihn tief und gründlich. Ja, so könnte es gelingen. Sie machen sich an die Arbeit. „Wir müssen jetzt fest zusammenarbeiten,“ sagten sie.

Sie pflanzten die Idee in den Ideenhimmel rund um den Planeten in der Hoffnung, dass einige ihrer Kinder sie hören und verstehen würden. Eine lange Weile geschah nichts. Doch dann griffen einige Kinder die Idee auf, wenn auch noch in Fragmenten. Die einen fühlten sich speziell von dem ökologischen Aspekt des Plans angezogen, andere waren berührt von dem Heilwissen, das in ihm steckte. Wieder andere ließen sich von der revolutionäre Kraft der Idee erfassen, ohne ihren Inhalt noch ganz zu kennen. „Sie müssen den ganzen Plan erkennen, sonst streiten sie sich wieder um die richtige Wahrheit,“ sagte die Göttin des Einfühlungsvermögens besorgt, die schon lange in den Mokassins der Kinder gelaufen war. Doch bevor jemand darauf etwas erwidern konnte, erkannten sie ein schwaches Licht. „Schaut!“ rief die Göttin mit den Adleraugen erwartungsvoll. Ein schwaches Leuchten erhellte die Dunkelheit. Tatsächlich! In einigen ihrer Kinder war die Erinnerung erwacht. Sie war noch sehr schwach, eher eine leise Ahnung. Die Kinder begannen, von der Zeit zu erzählen, bevor der Fluch über den blauen Planeten hereingebrochen war, und verbreiteten die Lehre von der großen Familie des Lebens. Sie erinnerten sich an uralte Lieder, an Tänze und Zeremonien und erweckten sie zu neuem Leben. Viele Kinder waren fasziniert von dem neuen Treiben und ahmten es nach. Vor allem diejenigen, die sich noch an nichts erinnern konnten, waren dabei besonders eifrig. „Zaperlot!“, fluchte die Göttin der politischen Strategie leise, denn Flüche waren im Göttinnenhimmel verpönt. Die Göttin der heiligen Ordnung schaute streng zu ihr hinüber. „So geht es nicht!“ fügte die Göttin der politischen Strategie eilig hinzu. „Es muss noch etwas hinzukommen. Die Erinnerung muss sich verbinden mit einer konkreten Strategie.“ Sie hatte ihren Satz kaum ausgesprochen, als ein starker Lichtblitz die Dunkelheit erleuchtete. Der Plan war im Herzen eines ihrer Kinder gelandet! Es saß allein in einer kleinen Stube in einem einsam gelegenen Bauernhaus und schrieb auf einer Schreibmaschine: „An einem unsichtbaren Punkt in diesem Universum entstand in der Zeit der große Extreme eine von Milliarden Ideen.“ Das Kind konzentrierte sich auf die Idee, fügte Stück um Stück zusammen, übersetzte sie in eine der Sprachen des blauen Planeten und in ein konkretes Vorhaben. Im Wissen, wieviel Unglauben und Misstrauen sich schon auf dem blauen Planeten ausgebreitet hatten, schrieb es die Idee so auf, dass sie nachvollzogen und verstanden werden konnte. Es waren viele Monate, fast Jahre Arbeit. Dann war es geschafft. Die Göttinnen jubilierten und nannten das Kind den „Hüter des Plans“. „Es ist zu allein,“ murmelte die Göttin der politischen Strategie. „Es braucht Freunde, die mitarbeiten!“. Sie veranlassten, dass der „Hüter des Plans“ eine Beratenden Versammlung einberief, um das Werk vorzustellen. Doch so schnell ließ sich der Bann nicht brechen. Anstatt Begeisterung ernteten seine Worte Spott und Hohn. Die anwesenden Kinder bezichtigten ihn des Größenwahns: Ob er sich erdreisten wolle, ein Messias zu sein? Wie könne er behaupten, er hätte einen Plan entwickelt, um ihren Planeten von dem Fluch zu befreien? So etwas sei doch nicht möglich. Und überhaupt: Was für ein Fluch? Wieviele solcher Messiase seien schon erschienen, die das Heil versprochen und Unheil gebracht haben? Ihr Unglaube war grenzenlos und nach allem, was auf diesem Planeten angerichtet worden war, mehr als verständlich.

„Was tun wir jetzt?“ flüsterte eine der jüngeren Göttinnen.

„Wenn unser Plan in einem unserer Kinder landet, dann kann er es prinzipiell auch in vielen“, antwortete die Göttin des logischen Denkens.

„Lasst ihn zunächst einen Kreis von Menschen aufbauen, die sich untereinander vertrauen. Im Milieu des Vertrauens wird unser Plan vielleicht angenommen,“ schlug die Göttin der politischen Strategie vor.

Alle waren froh, dass die Göttin der politischen Strategie immer so gute Ideen hatte. Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen.

Die Göttin der Inspiration flüsterte dem „Hüter des Plans“ den neuen Vorschlag ins Herz. Gehorsam baute er eine Gruppe um sich herum auf, in der sich alsbald eine große Herzkraft ausbreitete. Das Misstrauen, das überall die Kinder voneinander trennte, schmolz unter ihnen mehr und mehr dahin. Eine große Freude breitete sich aus. Andere Gruppen auf dem Planeten wurden davon angesteckt. Ein ganzes Netzwerk bildete sich. Doch eines gelang nicht. Niemand wollte den Plan aufgreifen. Die einen hatten Angst, dass sie dann selbst genauso verspottet werden würden wie er. Die anderen waren immer noch voller Unglauben. Die meisten aber waren einfach gleichgültig.

„Wenn das einer behauptet und alle anderen nicht, könne das doch auch nicht wahr sein,“ sagten sie. „Weltrettung! So ein Schwachsinn. Der blaue Planet kann sich doch selber retten. Er braucht uns nicht.“ Und überhaupt wollten sie keinem Guru mehr folgen. Sie wollen selbstbestimmt leben. Das Denkverbot wirkte mit voller Kraft. Und so rebellierten sie gegen den Plan und seinen Hüter wie einst gegen ihre Väter und Mütter. Sie sahen ja auch tagein, tagaus, dass der Hüter des Plans ein ganz normales Kind der Göttin war, so wie sie auch. Er saß mit ihnen an selben Tisch, trank denselben Wein und legte sogar einige Verhaltensweisen an den Tag, die sie an ihm als Person zweifeln ließen.

„Es geht nicht um mich, sondern um den Plan“, versuchte er ihnen zu vermitteln.

„Wir arbeiten doch schon dafür“, sagten sie. Sie waren tatsächlich der vollsten Überzeugung, dass dies so sei, aber sie verwendeten lediglich das Wort und höhlten es dadurch aus. Sie hatten noch nicht das Bewusstsein darüber, was das wirklich bedeutete. Der „Hüter des Plans“ litt grenzenlos unter dieser Situation. Oft saß er nachts unter dem Sternenhimmel und betete, um neue Eingaben zu bekommen. Aber es blieb still. Er erhielt keine Anweisungen mehr.

„Wir können das Leiden auf unserem Planeten beenden,“ wiederholte er immer und immer wieder zu seinen Getreuen um ihn herum. Aber sie hörten nicht zu und suchten woanders die vollkommene Botschaft zu finden. Sie beschäftigten sich mit Prophezeiungen und indigenen Lehren, nahmen Medizinpflanzen zur Hilfe und schlossen sich den gängigen Diskussionen und Gedankenfeldern an. Sie suchten die Anerkennung und Zugehörigkeit zu anderen. Auch das war mehr als verständlich nach dieser langen Geschichte der Trennung und Verfolgung Andersdenkender.

Die Göttin der politischen Strategie schüttelte ärgerlich ihr Haupt: „Die Strategie geht so nicht auf. Das Gefäß um unseren Plan herum ist zu klein und zu dicht. Lass uns versuchen, all die zusammenzubringen, die überall auf dem Planeten ein Fragment unseres Plans aufgegriffen haben“, schlug sie vor. „Hatten wir das nicht schon?“ fragte die Göttin des Einfühlungsvermögens, die sich so gut in die Mentalität der Kinder hineinzuversetzen hatte, dass sie beinahe schon so dachte wie sie. „Die Kinder haben sich weiterentwickelt,“ wurde sie von der Göttin mit dem Sinn für das Neue belehrt. Und die Göttin der Weisheit fügte aus ihrem schier unerschöpflichen Wissensreservoir hinzu: „Wenn die es schaffen, zusammenzukommen, dann kann sich ein Hyperbewusstsein ausbilden. Damit werden sie in der Lage sein, unseren Plan umzusetzen und die Hypnose aufzulösen.“

„Wir müssen noch fester zusammenarbeiten, dann können es unsere Kinder auf dem blauen Planeten prinzipiell auch,“ sagte die Göttin der Logik.

„Wir müssen den Panzer der Gleichgültigkeit aufweichen, die sich um den Planeten und um die Herzen unserer Kinder gelegt hat,“ warf die Göttin der Sinnlichkeit ein.

Die Göttinnen der Musik trommelten voller Begeisterung einen lebendigen Rhythmus auf die harte Schicht um die Herzen der Kinder. Ihnen zu Hilfe kamen die unzähligen Göttinnen der Tierwelt. Sie ließen ungewöhnliche Freundschaften zwischen Tieren entstehen, die das Herz der Kinder entzücken und weiter aufweichen sollten. Sie sollten verstehen, dass das, was ihnen in vielen Jahrhunderten beigebracht worden war, falsch war: Die Natur ist nicht auf Kampf und Zerstörung, sondern auf Solidarität und Kooperation angelegt. Die Göttin der Atmosphäre zauberte die wunderschönsten Farben an den Himmel, die in zartesten Tönen leuchteten. Das inspirierte die kreativsten ihrer künstlerisch begabten Kinder zu besonderen Gemälden und Kunstwerken. Die Göttinnen der Netzwerke arbeiteten fieberhaft. Auf ihnen lastete eine große Erwartung. Sie ließen Kontakte entstehen zwischen Kindern aus verschiedensten Regionen des Planeten. Die Göttinnen der Technik und Ingenieurskunst unterstützten sie meisterhaft. Sie waren schon lange aktiv gewesen, weil die Kinder in diesem Bereich noch weitgehend empfänglich geblieben waren für ihre technischen Eingaben. Unglaubliche Leistungen waren dadurch möglich geworden. Die Kinder hatten es sogar gelernt, Maschinen zu konstruieren, die auf anderen Gestirnen landen konnten. Sie waren gewaltig stolz auf sich und fühlten sich großartig und mächtig. Aber ihre Herzen blieben unerreicht. So wurden die meisten Erfindungen nicht zum Wohle aller, sondern weiterhin zur Unterdrückung und Zerstörung eingesetzt. Besonders eine Gruppe von technisch hochbegabten Kindern hatte phantastische Kommunikationswege ermöglicht. Ihre Erfindung wäre eigentlich eine große Chance gewesen, den Bann zu brechen. Doch anstatt zur Befreiung wurde das Kommunikationsnetz zur totalen Kontrolle eingesetzt. Es wurden Informationen verbreitet, die begründeten, warum die Kinder sich nicht mehr frei auf dem Planeten bewegen, einander treffen und berühren können sollten.

„Zapperlot!“, fluchte die Göttin der politischen Strategie. Es war deutlich hörbar. Aber niemand störte sich mehr daran. Auch im Göttinnenhimmel können sich Gewohnheiten verändern.

„Wenn wir doch nur unsere Gegenspieler erkennen könnten,“ sagte die Göttin der Weisheit. „Dann würde ihre Macht zusammenbrechen!“

Die Göttin des Wetters legte ihre Stirn in zornige Falten. „Es ist genug mit unserer Strategie der Sanftheit und Geduld, ich lasse es jetzt stürmen und gewittern, lasse Flüsse über die Ufer treten und Brände ausbrechen.“

Die Göttinnen der Tierwelt erschraken. Doch bevor sie das Wort erheben und auf das unsägliche Leid ihrer Geschöpfe aufmerksam machen konnten, das durch solche Unwetter hervorgerufen werden würde, fuhr die Göttin des Wetters fort: „Unsere Kinder müssen jetzt aufwachen. Der Planet ist erschöpft. Wenn es uns nicht gelingt, das Blatt zu wenden, wird sogar die Pflanzenwelt so weit zerstört sein, dass sie das Leben auf dem Planeten nicht mehr erhalten kann. Dann ist der Planet unwiederbringlich verloren.“

Die Göttinnen der Pflanzenwelt begannen zu weinen. „Sie hat recht,“ stimmten sie unter Tränen zu, genügsam, ausdauernd und zäh wie sie waren. „Lasst die Unwetter kommen. Wir werden schon durchhalten.“

Die Göttin des Wassers schwieg nachdenklich.

„Was ist mit dem Plan?“ erhob die Göttin der politischen Strategie ungeduldig ihre Stimme. „Wir müssen dafür sorgen, dass sich das Netzwerk trotz aller Einschränkungen bilden kann! Die Kinder müssen sich von Angesicht zu Angesicht treffen. Solche Treffen kann die Technik nicht ersetzen.“ „Es geht schließlich um die Liebe“, sagte die Göttin der Sinnlichkeit. Die Göttinnen der Netzwerke hoben ihre Köpfe. Sie waren so vertieft in ihre Arbeit gewesen, dass sie das Gespräch nicht mitverfolgt hatten. „Good news!“ sagten sie, angesteckt von der planetarischen Netzwerksprache, „es scheint zu funktionieren. Immer mehr Kinder hören einander zu. Sie haben ihre alten Rivalitäten abgestreift und beginnen, den Plan aufzunehmen. Einige haben sogar angefangen, ihn wirklich gründlich Wort für Wort zu studieren. Allerdings sind sie noch nicht so weit vorgedrungen, dass sie an das Ziel schon glauben können. Aber immerhin.“

„Es geht zu langsam,“ brauste die Göttin mit dem Sinn für die richtige Geschwindigkeit auf. „Schaut doch hin! Hört hin!“

Die Göttinnen wendeten sich wieder dem Geschehen auf dem blauen Planeten zu. Sie sahen, dass sich der Plan tatsächlich langsam verbreitete. Einige Herzen waren bereits davon berührt. Ihr Leuchten verbreitete sich, wurde aber immer wieder von der Dunkelheit verschluckt, die alles voneinander trennte. An der Grenzfläche entbrannte ein heftiger Disput. „Ihr mit eurem Plan wollt uns vereinnahmen!“ ertönte eine misstrauische Stimme aus dem Dunklen mit dem altbekannten Einwand. „Ihr glaubt wohl, ihr seid etwas Besonderes. Haben nicht alle Bewohner dieses Planeten etwas beizutragen?“ Andere ergriffen die Gelegenheit und gaben das Licht für ihre eigene Sache aus, was die allgemeine Verwirrung weiter steigerte. Eines der Kinder, das den Plan besonders sorgfältig studiert hatte, erwiderte allerdings noch mit einem Unterton von Rechtfertigung: „Der Plan wurde entwickelt, um eine Plattform zu schaffen, auf der wir uns verständigen können.“ Doch seine Worte wurden überhört. Es fühlte, wie Wut in ihm aufsteigen wollte, doch es fasste sich ein Herz und erhob noch einmal das Wort. „Hört, was der Urheber des Plans geschrieben hat,“ sagte es und las: „Wir brauchen heute auch in den Kernfragen unserer Existenz ein diskursives, intersubjektiv nachvollziehbares Denken, welches allein den ideologischen Dogmatismus überwinden hilft und die gewonnenen Erkenntnisse transparent macht.“

Ein Geschichtenerzähler unterbrach vehement und mit der gewichtigen Stimme eines Experten: „Das ist doch ein Stilbruch! Solche Zitate passen doch überhaupt nicht in ein Märchen!“ rief er.

„Dann sage ich es halt in meinen eigenen Worten“, trotzte das Kind. „Der Plan ist das Fundament, das uns dazu befähigt, uns wieder zu verständigen. Er ist an jeder Stelle zu hinterfragen, wenn man es wirklich wissen will. Sobald das Ziel verstanden wird, sobald wir erkennen, dass und auf welchem Weg es zu erreichen ist, wir also unseren Planeten wirklich befreien können von dem Fluch, der über ihm liegt, werden wir zusammenarbeiten. Wir brauchen unsere bisherigen Arbeiten und Aufgabengebiete dazu nicht aufzugeben und werden ganz von allein die Stelle finden, an der sie sich nahtlos einfügen in das große Ziel. Wir werden mutig genug sein, uns hinter den Plan zu stellen, wo immer es sinnvoll erscheint, weil wir wissen, wofür wir es tun.“ Seine Begeisterung wirkte ansteckend. „Studiert den Plan!“ rief es aus. „Er ist doch nicht von uns Kindern, sondern von den G…“ Es verschluckte den Rest. Ihm war rechtzeitig in den Sinn gekommen, dass es nur weitere Missverständnisse auslösen würde, jetzt auch noch die Göttinnen ins Spiel zu bringen. „Studiert den Plan!“ wiederholte es stattdessen mit fester Stimme. „Ich habe ein ganzes Buch darüber geschrieben,“ und fügte mit einem Seitenblick auf den Geschichtenerzähler hinzu: „In meinen eigenen Worten. Und mit Kapiteln und Zitaten des Urhebers, dessen Werk ich damit ehren und nicht als das meine ausgeben möchte.“

Der Geschichtenerzähler lenkte brummelnd ein: „Schon gut.“

„Ihr wollt uns nur für euren eigenen Karren spannen!“ erklang das alte Lied wieder aus dem Dunklen. Die Kinder hatten tatsächlich verlernt, einander zuzuhören.

„Schaut doch, ihr arbeitet schon so lange an der Verwirklichung des Plans und doch konnte er sich noch nicht unter denen verbreiten, die ihr um euch versammelt hat. Da stimmt doch etwas nicht.“ „Die wollen doch einfach nur ihre Bücher verkaufen,“ versuchte ein erfolgreicher Unternehmer das Ganze auf denjenigen Punkt zu bringen, den er verstand.

Die Lage erschien aussichtslos.

Unter dem Göttinnen machte sich Ratlosigkeit breit. Die Göttin der Feinfühligkeit flehte mit bebender Stimme: „Kinder, bitte, schaut auf das Licht. Verstärkt es, schaut nicht auf die Schwierigkeiten, sonst verheddert sich unser genialer Plan zu stark im Gestrüpp eurer Reaktionen.“ Die Göttin der politischen Strategie seufzte tief. Sie schien am Ende ihrer Weisheit angelangt zu sein. „Wir brauchen ein Wunder!“ rief sie aus.

Alle drehten sich nach der Göttin der Wunder um. Sie war in Vergessenheit geraten, denn sie hielt ein sehr unverständliches Amt inne. Sie stand abseits des Reigens im Hintergrund und war überrascht, dass ihr plötzlich soviel Aufmerksamkeit entgegen gebracht wurde. Sie trat in den Kreis und sprach: „Ich bin die Öffnung für das Unerwartete, das scheinbar Unmögliche, das Unvorhergesehene. Ich bin das große Nondum, das große „Noch-Nicht“. Ich bin das Neue, das sich ewig Wandelnde. Ihr habt mich lange ignoriert, aber ich war immer bei euch, habe eure Anstrengungen begleitet und unterstützt. Wenn ihr mich und mein Wirken ganz erkennt, wird unser Werk gelingen. Schwester der politischen Strategie: Mache dich bereit, eine große Agentur zu entwerfen und zu verwirklichen, die den Plan mit allen technischen Mitteln über den blauen Planeten verbreitet. Schwester des Geldes: Statte diese Gruppe aus mit genügend Kapital. Schwestern der Netzwerke: Verbindet die Information mit der Arbeit anderer Kinder und löscht so weit wie möglich zwischen ihnen alle Gefühle von Konkurrenz und Missgunst. Wenn das geschehen ist, kann ich umso leichter wirken. Aber es gibt noch einen wichtigen Punkt, über den wir bisher viel zu wenig gesprochen haben. Er muss dazu kommen. Schwestern der sinnlichen Liebe, verstärkt eure Arbeit und arbeitet fest zusammen mit den Schwestern der Intelligenz. Hier liegt der größte Engpass auf dem blauen Planeten. Unsere Kinder haben Liebeskummer. Und durch das Denkverbot finden sie nicht heraus, wie sie diesen Kummer auflösen können. Sie glauben ganz fest daran, dass die Liebe eine Privatsache sei. Dabei haben sie Strukturen aufgebaut, die ihre Liebeskräfte falsch kanalisieren und in viel zu kleine Gefäße sperren. Die Liebe will sich aber ausdehnen, sie umfasst alles, den ganzen Planeten und darüber hinaus auch unsere Welt und noch viel weiter. Wenn sie das nicht kann, sprengt sie das Gefäß und verwandelt sich in ihr Gegenteil. Enttäuschte Liebe ist der Nährboden für all die schlimmen Dinge, die unsere Kinder anrichten. Das haben die gewusst, die den Fluch über unseren Planeten gelegt haben. Die Liebe muss aber wieder in Erfüllung gehen können. Sie ist die größte Heilkraft, die uns und unseren Kindern zur Verfügung steht.“

„Wenn es an wenigen Orten gelingt, ein neues Gesamtsystem aufzubauen, in dem sich die Liebe ausbreiten und sich unsere heilige Lebensordnung verwirklichen kann, dann kann es prinzipiell überall gelingen“, sagte die Göttin der Logik.

Die Göttin der jugendlichen Verliebtheit zappelte aufgeregt hin und her. „Wäre das schön,“ jauchzte sie, die Rede ihrer Vorgängerin unterbrechend, „…wenn die Liebe auf dem Planeten wieder in Erfüllung gehen würde.“ Sie schaute zur Göttin hinüber, die auch die „Große Mutter“ genannt wurde, und beeilte sich hinzuzufügen: „Ich will diesmal auch gewiss mit dir zusammenarbeiten! Ich werde auf dich hören und dein großes Wissen über die sinnliche Liebe meinen jungen Kindern ganz behutsam nahe bringen!“ Die große Mutter strich ihr sanft über das Haar. „Gewiss,“ sagte sie. „Wir müssen es immer wieder aufs Neue versuchen, die Liebe auf dem blauen Planeten in Ordnung zu bringen. Vor allem die Liebe zwischen den männlichen und weiblichen Kindern. Sie brauchen einander und müssen nach all den Irrungen und Unterdrückungen und all dem Schlimmen, das sie sich gegenseitig zugefügt haben, neu zusammenfinden. Sie müssen aufhören einander anzuklagen und zu bekämpfen. Dann werden sie endlich erwachsen. Sie werden dann der Ethik folgen, die in ihren eigenen Herzen wohnt. Sie werden dann ihren höchsten Einsichten wieder folgen können, ohne dass jemand hinter ihnen steht und sie ermahnt. Sie werden dann ihre Gesetzestafeln nicht mehr brauchen. Sie haben ihre Gesetze ja ohnehin kaum eingehalten. Wir haben ihnen ihr Gewissen mit auf dem Weg gegeben, damit sie nicht ihren, sondern unseren Gesetzen folgen. Auf diese Weise werden sie wirklich unsere Partner und Partnerinnen.“ Die Göttin der politischen Strategie hatte wieder neuen Mut gefasst: „Lasst uns gemeinsam mit einigen unserer Kinder diese exemplarische Orte aufbauen, wo die Kinder ihrem Gewissen und ihrer Liebe wirklich wieder folgen können. Dann kann sich diese Wissen überall verbreiten.“

Die Göttin der Wunder lächelte. Ihre feinstoffliche Wirkung hatte sich bereits entfaltet. Sie schaute auf ihre Schwestern im Kreis und ergriff noch einmal das Wort: „Ich möchte euch noch etwas Wichtiges mitteilen. Ich habe einen Wunsch, den ich schon seit Ewigkeiten mit mir herumtrage. Ich wünsche mir sehr, von euch erkannt und anerkannt zu werden. Schwester des logischen Denkens, betrachte mich, verstehe mein Wirken. Schwestern des Lernens, verstehe mich und vermittele es den Kindern, so dass auch sie mich erkennen, mehr noch, dass sie verstehen, wie sie selbst so wirken können wie ich. Ich bin die Schöpferkraft selbst, die unbegrenzte Möglichkeit der Heilung. Ich bin immer da. Ihr müsst mich nur entdecken und meiner Weisung folgen.“

Eine besonnene Ruhe breitete sich aus.

Doch dann kam das Jahr 2021 in der Zeitrechnung des blauen Planeten. Der Zeitstrahl traf auf das Märchen. Was folgt, ist noch nicht geschrieben. Wie es weitergeht, hängt von den Entscheidungen und Handlungen derer ab, die nachts unter dem Sternenhimmel auf die Weisungen der Göttinnen lauschen, der Stimme in ihrem Herzen folgen, die Logik des Wunders verstehen lernen und den Plan verwirklichen.


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