Terra Nova

Gemeinschaft Dauer geben

Von Leila Dregger

In den Widerstandbewegungen der letzten Jahre kam es immer wieder zu einem ähnlichen Phänomen: Junge Menschen unserer Zeit – durch Leistungsdruck auf Konkurrenz getrimmt, durch Perspektivlosigkeit ernüchtert – erlebten das Wunder der Gemeinschaft. Sie erkannten, dass ihre Probleme nicht privat waren, schlossen sich zusammen, fanden gemeinsam Lösungen out of the box. Sie erfanden Kommunikationsformen und demokratische Spielregeln, teilten ihr Essen und ihre Gedanken, entwarfen Aktionen, erwarben Wissen, spürten Liebe, fühlten sich verstanden. Alles schien möglich! Kaum jemand wollte mehr nach Hause. Das war das eigentliche Leben, und sie wollten es nie wieder verlassen.
Sie hatten Gold entdeckt – aber schon nach wenigen Tagen rann es ihnen durch die Finger wie Sand. Wenn endlose Diskussionen um Banalitäten kreisten und das Wesentliche nicht mehr angesprochen wurde; wenn eine schweigende Mehrheit entstand und andere endlos argumentierten – dann war das ganze ermüdende Zahnrad der Konkurrenzgesellschaft wieder eingerastet. Es fehlten Erfahrung und Wissen, die Gruppe wieder zu einigen. Der Traum zerbrach – und zwar meistens bevor die Polizei oder die Armee die Camps räumten.
Dies ist kein Wunder. Das gesellschaftlich vorherrschende Feld heißt immer noch: »Tu es besser allein.« Konkurrenz, Abgrenzung und Gegeneinander bestimmen Politik, Wirtschaft und Alltag bis in unsere seelische Innenwelt hinein. So wurden die meisten von uns konditioniert, so werden wir gesellschaftlich bestätigt – und so bringen wir die Erde in den Ruin, wenn wir uns nicht ändern. Denn ohne das authentische Empfinden von Ganzheit und Gemeinsamkeit, ohne zu spüren, was uns verbindet, ohne diese »unsichtbare Substanz der Zugehörigkeit« (Albert Bates) werden wir nicht in der Lage sein, gemeinsam, rasch und effektiv auf eine sich immer schneller verändernde Welt zu reagieren.
Die meisten innovativen Projekte und Initiativen gehen bei genauerer Analyse nicht an äußeren Bedrohungen zugrunde, sondern an inneren Zerwürfnissen – an Machtkämpfen, Heimlichtuerei oder Eifersucht. Auch Klimaverhandlungen sähen anders aus, wenn Politiker und Lobbyisten sich von ihrem Eigeninteresse lösen und entschlossen für das Gemeininteresse eintreten würden. Sich darüber zu empören, hilft wenig. Damit die »andere Welt«, von der wir träumen, wirklich entsteht, brauchen wir ein neues gesellschaftliches Feld: Gemeinschaften des Vertrauens als Selbstverständlichkeit.

Was ist Gemeinschaft?
Alles lebt in Gemeinschaft. Vom Planetensystem bis hin zum Zellverband, alles Leben findet seinen Platz und seine Einzigartigkeit im Zusammenspiel mit anderen, im Rahmen des großen Ganzen. Beim Übergang vom Ein- zum Mehrzeller vervielfältigten sich die Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten und machten die neue Lebensform der alten weit überlegen. In einem gesunden Organismus verlässt sich jedes Organ auf das andere. Keine Leber muss mit einer Niere um den Sauerstoff ringen. Keine Lunge denkt, sie müsste genauso handeln wie das Herz. Nur gemeinsam schaffen sie es, in aller Unterschiedlichkeit, koordiniert von dem geheimnisvollen Prinzip der Selbstorganisation – unserem großen evolutionären Verbündeten. Biologe Bruce Lipton sagt: »Würden die Zellen eines Körpers so in Konkurrenz und Misstrauen leben wie die Menschen untereinander, würde er fast sofort auseinanderfallen.«
Der Stamm ist die ursprüngliche Heimat des Menschen. Wie der Soziologe Steve Taylor es beschreibt, kannten die ursprünglich weltweit existierenden Stammeskulturen keine Gewalt- und Strafaktivitäten. Mit Sexualität ging man eher entspannt um, Frauen und Männer waren relativ gleichgestellt, statt Hierarchie gab es den Kreis, in dem alles besprochen wurde. Der Dauer dieser Kulturen nach zu urteilen, lebten sie nachhaltig. Wenn man ein Tier oder eine Pflanze entnehmen musste, um zu überleben, so tat man es mit Respekt und war dabei niemals grausam. Ein Stamm spürte, wo er eine ökologische Grenze erreichte, und zog weiter. Sich auf Kosten der Gemeinschaft zu bereichern, wäre kein Zeichen von Unmoral, sondern von Geisteskrankheit gewesen. Die globale Gier, die aus der Erde ein geplündertes Warenhaus macht, entspringt dieser Geisteskrankheit. Sie beruht auf Trennung vom ursprünglichen Stammeszusammenhalt. Diese Trennung ist das kollektive Trauma der Menschheit. Wie viel seelisches Leiden, aber auch wie viele körperliche Defekte gehen auf das Konto der verlorenen Gemeinschaft!
Als die afrikanische Kulturbotschafterin Sobonfu Somé erstmals in die USA reiste und eine Familie besuchte, fragte sie überrascht: »Wo sind denn all die anderen?« Ja, wo sind sie denn – die Nachbarn, Freunde, Schwestern, Onkel, Schwiegerkinder und Weggenossinnen, die unserem Leben Wärme, Sinn und Qualität geben? Warum haben wir so viele Möglichkeiten zu Nähe, Kontakt, Austausch, gegenseitiger Hilfe, Zusammenarbeit, Reibung, Korrektur und Voneinander-Lernen aus unserem Leben verbannt?
Geschichtsforscher können die Zeit, da die ursprünglichen Stämme verschwanden, für die jeweiligen Regionen ziemlich genau datieren. Die neolithische Revolution geschah, vereinfacht gesagt, als das junge Patriarchat die Welt eroberte und an die Stelle von Kooperation Unterdrückung, an die Stelle von Ergänzung Gewalt und an die Stelle von Miteinander Befehlshierarchien setzte.
Umgekehrt können wir davon ausgehen, dass die damalige Gemeinschaftsform dem wachsenden Ich-Bewusstsein des Menschen nicht mehr gerecht wurde. Dieses brauchte Freiheit, wollte seine Kraft erproben, sich emanzipieren von althergebrachter Tradition und Konvention. So weit, so richtig. Doch anstatt neue Gemeinschaftsformen zu entwerfen, in die mehr Individualität hineinpasste, trennte mensch sich von der Gemeinschaft. Eine Strategie, die nicht zur gewünschten Freiheit führte – im Gegenteil: Der Mensch schuf sich das Gefängnis der Einsamkeit.
Bleibt die Sehnsucht nach Gemeinschaft unerfüllt, werden Menschen Mitglieder von Fanclubs oder Sekten und vertreten Ansichten, die sie gar nicht teilen, wenn sie nur ein wenig nachdenken würden. Der isolierte Mensch ist bereit, alle Grenzen des guten Geschmacks, des besseren Wissens und des Mitgefühls zu überschreiten, nur um irgendwo dazuzugehören. Der Faschismus nutzte diesen Umstand gnadenlos aus.

Wie erhalten Gemeinschaften Dauer?
Es folgen einige Leitgedanken, keine Methodik. Letztlich muss jede Gemeinschaft die Methoden finden, die ihr entsprechen, und sie immer wieder erneuern, nur dann bleibt sie lebendig. Doch gibt es hilfreiche Erfahrungen, von denen ich hier einige teilen möchte.

Gemeinschaft und Individuum
»Nicht die Herde, sondern das Biotop ist das Vorbild von Zukunftsgemeinschaften«, sagt der Soziologe Dieter Duhm. Zukunftsgemeinschaften leben nicht von Gleichmacherei, sondern von ausgeprägter Individualität und Vielfalt. Wir müssen in unseren Gemeinschaften genug Platz für die Entwicklung des Einzelnen lassen, genügend Zeit für das Alleinsein und für das gegenseitige Erkennen: Wir werden sehen, dass Unterschiede und Vielfalt unsere Gemeinschaft bereichern. Wir werden auch den Unterschied zwischen dem Ich und dem Ego erkennen: Während das Ego trennt, ist das Ich immer etwas, das verbindet.
Es gibt keine funktionierende Gemeinschaft ohne Individualität. Umgekehrt gibt es keine Individualität ohne Gemeinschaft: Wir entwickeln sie nicht allein im Kämmerlein, wir brauchen Kontakt, Feedback, Reibung, um zu erkennen, wer wir sind, und ein Gefühl für unsere Stärken und Schwächen zu bekommen. Die Gemeinschaft kann ein Schutzraum dafür sein, unsere persönliche Wahrheit zu erkennen und auszusprechen.

Ein gemeinsames Ziel
In keiner Gemeinschaft werden sich die Mitglieder immer sympathisch sein. Es ist wie bei einer Partnerschaft: Wenn die erste Verliebtheit abflaut und die Projektionen bröckeln, müssen wir entscheiden, ob wir auseinandergehen oder etwas finden, das stärker ist als momentane Sympathie oder Antipathie. Im I-Ging steht: »Nicht Sonderwerke des Ichs, sondern Menschheitsziele rufen dauerhafte Gemeinschaft hervor.« Globale Anteilnahme und ein gemeinsames Ziel, mit dem sich seine Mitglieder stark verbinden können, sind essentiell. Unter den Mitgliedern wächst ein starkes Band, wenn sie merken, dass sie sich in Bezug auf das gemeinsame Ziel ergänzen und aufeinander verlassen können.

Transparenz und Vertrauen
Vertrauen entsteht durch Transparenz. Es entsteht, wenn man im Innersten gesehen wird und den anderen sieht. Und das geschieht, weil man sich selbst zeigt. Es ist erstaunlich, was für eine Last von einem fällt, wenn man weiß: Ich muss keine Angst vor heimlicher Verurteilung haben, die anderen werden mir sagen, wenn sie etwas an mir nicht mögen. Statt heimliches Gerede braucht jede Gemeinschaft Formen, die ihren »Untergrund« sichtbar machen – all das, was man so gerne höflich verschweigen und verdrängen würde, was aber das Klima vergiftet, wenn es nicht ausgeräumt wird. Dieser Austausch sollte von Humor, Wohlwollen und menschlichem Wissen getragen sein, es geht nicht darum, sich gegenseitig zu verletzen, sondern sich zu verstehen, zu zeigen und zu befreien. Eine freie Aussprache, bei der man keine ängstlichen oder wütenden Reaktionen zu befürchten hat, ist erlösend für jede Gemeinschaft.

Leitungsstruktur und Basisdemokratie
Das Vorbild der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung ist nicht mehr die Pyramide, sondern der Kreis. Der nordamerikanische Indianer Manitonquat schreibt: »In einem Kreis ist jeder ein Führender. Das heißt, dass jeder die Verantwortung für den ganzen Kreis übernimmt.« Ohne partizipative Entscheidungsprozesse, in der alle Stimmen gehört werden, entsteht keine Gemeinschaft. Doch Basisdemokratie braucht gereifte Menschen mit Führungsqualitäten, damit Verantwortung tatsächlich geteilt werden kann. Und sie braucht menschliches Wissen und die Bereitschaft zur Transparenz: Wie viele quälende Sachdiskussionen erweisen sich als Scheingefechte, wenn man die menschlichen Hintergründe sichtbar macht. Letztlich sollten Entscheidungen von denen getroffen werden, die bereit sind, Verantwortung zu tragen. Dafür wurden gerade in den letzten Jahren viele organisatorische Werkzeuge erfunden.

Geschlechterdynamik
Die Unterschiedlichkeit, die Anziehung und die Missverständnisse zwischen Männern und Frauen sorgen in jeder Gemeinschaft für Dynamik, es hilft nichts, sie zu ignorieren. So genannte weibliche Qualitäten wie Fürsorge, Empathie, Anteilnahme, Pragmatismus, Zuhören-Können – egal ob sie bei Männern oder Frauen sichtbar werden – sind für Gemeinschaften essentiell und werden mehr abgefragt als in der normalen Geschäftswelt. Nach der Irokesen-Verfassung sollte ein Anführer sein »wie eine gute Mutter«. Jede Gemeinschaft ist nur so gut, wie sie es schafft, das Weibliche zu ehren. Und das Männliche, möchte ich gern hinzufügen: Weitblick, Zielstrebigkeit, Rationalität, Theorie, Tatkraft – egal, ob von Männern und Frauen vertreten – sind für die Ökodorfbewegung ebenso wichtig. Eine Gemeinschaft sollte Formen finden, sich die Qualitäten bewusstzumachen und auszubalancieren. Gemeinschaften müssen einen Weg finden, Liebespaaren und Familien eine Einbettung zu bieten und die Liebe und die Wahrheit zwischen ihnen unterstützen.

Gemeinschaft der Gemeinschaften
Alles, was hier für Individuen gesagt wurde, gilt auch für Gemeinschaften. Das ist der nächste Schritt, vor dem wir stehen: Dass die Gemeinschaften verbindlich kooperieren, ihr Gemeinschafts-Ego überwinden und einander unterstützen. An einigen Orten hat das bereits begonnen.

Aus dem Buch: Ökodörfer weltweit – von Leila Dregger und Kosha Joubert

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