Terra Nova

Kolumbien-Tagebuch, Teil II

von Sabine Lichtenfels (mit redaktioneller Unterstützung von Elisa Gratias)

 

Samstag, 2. November

5.47 Uhr. Es dämmert noch, in wenigen Minuten geht hier die Sonne auf. Vor mir liegt Gaviota, der kleine Hund, die Möve der Gringos, wie sie ihn hier nennen. Gaviota bedeutet Möwe. Langsam kommen alle aus den Betten.

Gestern am Abend kam unsere „Defend the Sacred“ Delegation an, darunter Gabriel aus Argentinien, der 29 Jahre als Friedensaktivist in Israel lebte. Mit ihm hatten wir die Friedensmahnwache in der Westbank auf dem Gelände von Ali Abu Awwad durchgeführt, einem bekannten Friedensaktivisten, der sich konsequent für Gewaltfreiheit einsetzt. Dies war während des letzten Gazakriegs. Er endete mit einem Waffenstillstand im Januar 2009.

Während die selbstgebauten Bomben der Palästinenser über unseren Köpfen hinweg flogen, saßen wir unter freiem Himmel und dachten über mögliche Friedenslösungen nach. Es war offensichtlich eine ausweglose Geschichte für die Palästinenser gegen eine Hightech-Kriegsführung der Israelis. Es kam uns vor wie der verzweifelte Aufschrei einer unterdrückten Bevölkerung in Gaza, die nicht bereit ist, weitere Unterdrückung schweigend zu dulden.

Für uns war unsere Mahnwache ein einschneidendes Erlebnis. Wir wurden Zeugen, wie Siedler, Palästinenser, Israelis und Internationale gemeinsam für eine gewaltfreie Friedensvision einstanden und, obwohl wir ungeschützt unter freiem Himmel waren, herrschte eine enorm friedliche Energie und alle Beteiligten begegneten sich auf solidarischer und existentieller Ebene. Mir fällt immer wieder auf, wie bei einigen Menschen die gegenseitige Anteilnahme stärker ist, als der Krieg, und die Friedensmacht und der unbedingte Wille zur Versöhnung in existentiellen Situationen siegen.

Wie viele Kriege gehen aus Weltanschauungen hervor?

Mich haben solche Erfahrungen sehr geprägt. Das bewegt mich auch dazu, jetzt wieder über eine mögliche Friedensmahnwache in der Wüste nachzudenken. Ich würde eine vergleichbare Mahnwache jederzeit wiederholen, wenn ich irgendwie den tieferen Sinn darin sehen kann. Etwas in mir kann daran glauben, dass solche naiv erscheinenden Aktionen eine Wirkung auf das Ganze haben. Sie können eine Erinnerung in uns wecken, wie wir ursprünglich gemeint sind, als liebende anteilnehmende Wesen! Und das kann ansteckend wirken.

Damals dachte ich an viele Menschen, die ihre Pässe verbrennen, als Zeichen, dass wir keinen staatlichen Anweisungen mehr folgen, die Krieg als mögliche Lösung für den Frieden propagieren. Ich kann eine wirkliche Friedensmacht erst sehen, wenn es keine Verlierer mehr gibt. Gerade diejenigen, die an der Macht sind, könnten hier vollkommen neue Zeichen setzen.

Helena, eine 44-jährige Spanierin, die auch gestern mit der Delegation hier ankam, engagiert sich seit fünf Jahren sehr in Gaza. Wir werden viel von ihr erfahren. Sie war Jahre lang bei „Peace Brigades International“ (PBI) aktiv und nicht das erste Mal hier. Sie hat fünf Jahre in Kolumbien gelebt und war auch hier in der Friedensgemeinschaft von San José de Apartadó im Einsatz, während sie die PBI-Leute landesweit koordinierte und begleitete.

Rajendra Singh und sein Assistent, der Journalist Indra Shekhar Singh, aus Indien trafen nach einer 80-stündigen Reise zusammen mit Helena und Gabriel als „Defend the Sacred“-Delegation ein. Rajendra nimmt meine Hand, als er von unserem Unfall erfährt, und sagt:

„Immer, wenn wir etwas Großes angehen, testet uns die Natur, ob wir es ernst meinen mit unseren Vorhaben. Dann gibt sie uns all den Schutz, den wir brauchen.“

Rajendra traf ich das erste Mal auf der „Walking Water“-Pilgerschaft durch das Owens Valley Richtung Los Angeles. Wir wurden dort Zeuge von mächtigen Verletzungen der Natur durch die Errichtung von Pipelines für den Wassertransport nach Los Angeles. Es ist immer wieder beeindruckend, wenn er seine Geschichte erzählt, wie er dazu kam, sich für das Wasser einzusetzen. Er erlangte internationale Bekanntheit als der „Wassermann von Indien“. Ursprünglich war er Arzt.

Rajendra kam einst als Heiler in ein Dorf und dort sagte ihm ein älterer Bewohner: „Wir brauchen deine Medizin nicht, wir brauchen Wasser, das ist unsere Medizin.“ Rajendra antwortete ihm, dass er kein Wissen über Wasser habe.

Der alte Mann aber blieb beharrlich: „Du kommst von außen, du kannst uns helfen. Du musst nur in die Natur gehen und beobachten, wie das Wasser behandelt werden möchte, wie es sich auf gesunde Weise bewegt und reinigt.“ Rajendra tat dies. Einige Tage saß er in der Wüste und beobachtete das Wasser. Damit erhielt er seinen wahren Beruf, seine Berufung.

Gemeinsam mit dem enormen Einsatz von Dorfbewohnern, brachte er inzwischen mehr als zwanzig Flüsse Indiens wieder zum Fließen und es geschah eine Wiederbegrünung ganzer Landstriche.

Martin Winiecki, der ihn vor zwei Jahren in Indien begleitete, erzählte uns, dass man aus dem Flugzeug beobachten kann, wie sich die ganze Landschaft verändert hat, weil ganze Landstriche mit einem neuen Wassermanagement bearbeitet wurden, und so hier die Natur wieder in ihrer ganzen Fülle zur Entfaltung kam. Rajendra sagt, dass man nach etwa 20 Jahren den Erfolg der Arbeit sehen kann. Mit ihm zusammen kam sein Assistent Indra nach Kolumbien, der inzwischen bereits einige Male in Tamera war.

Alle aus unserer Gruppe kennen Tamera, was es uns leichter macht, denn wir müssen nicht jedes Mal neu in die Diskussion eintreten, warum wir die Themen von Liebe und Sexualität als ein wesentliches Politikum betrachten.

„Inweltkrise und Umweltkrise sind zwei Seiten desselben Konfliktes.“

Solange wir in unseren Privatbereichen randalieren, wird kein dauerhaftes Vertrauen entstehen können. Im persönlichen Bereich ist es meistens am schwersten einzusehen, wie sehr wir zum Krieg beitragen. Der Wunsch, den Partner zu kontrollieren, oder die Verlustangst, die einsetzt, wenn sich unserer Partner einer anderen Person zuwendet, prägen unser tägliches Verhalten. Wir versuchen es zu verbergen oder verurteilen uns für unsere Eifersucht, statt zu erkennen, dass diese Verhaltensformen Teil unserer Gesellschaftskrankheit geworden sind. Wenn wir eine Krankheit haben, verurteilen wir uns auch nicht dafür, sondern suchen konsequent nach neuen Heilungsmöglichkeiten.

Noch ist dieses Thema trotz aller sogenannten Befreiungen ein Tabu. So liegt im Bereich von „Wahrheit und Transparenz in der Liebe“ noch Arbeit vor uns, es ist eine revolutionäre Keimzelle, ein mächtiges Potential für unsere Befreiung.

„Stell dir vor, du erwachst eines Morgens und hast keine Angst mehr, du weißt, wer du bist, warum du hier bist und was du wirklich liebst.“

Wenn hier Gemeinschaften wirklich zueinander gefunden haben, sind sie nicht länger regierbar. Ich spreche gern von den drei Ts: TTT für „Truth, Trust, Transparency“ (Wahrheit, Vertrauen und Transparenz) als Voraussetzung für eine Friedensgemeinschaft.

Alle hier, sowohl unsere kleine „Defend the Sacred“-Delegation als auch die Friedensgemeinschaft von San José, wissen, dass wir so denken, dass wir diese Arbeit für eine notwendige Basis für die Gründung gesunder sozialer Lebensformen halten. Und auch, wenn nicht alle die Radikalität unseres Ansatzes akzeptieren, so sehen sie doch die Notwendigkeit, diese Thematik in die Friedensarbeit einzubeziehen. Jeder weiß, dass es Zukunftsmusik und zugleich die große Vision ist, die uns motiviert und die Kraft gibt, für den Aufbau dezentraler Gemeinschaften einzustehen.  

Gegen 7.15 Uhr treffen wir uns an dem kleinen Steinkreis, den wir hier 2007 mit der Friedensgemeinschaft errichteten. Gemeinsam mit den Campesinos erarbeiteten wir für den Steinkreis die Aspekte, welche die ethische Richtlinie für die Gemeinschaft sind. Es fühlt sich an, als wären die beiden Steinkreise über das Herz der Erde miteinander verbunden und wecken in uns die organische Erinnerung daran, wie dieser Planet von uns Menschen bewohnt werden möchte.

Später baute das Friedensdorf zusätzlich eine Kapelle und alle Kosmogramme, die in die Steine eingemeißelt wurden, bekamen auch ein farbiges Kirchenfenster. Der Jesuitenpater Padre Javier Giraldo, ein Befreiungstheologe, begleitet die Gemeinschaft seit vielen Jahren. Durch ihn und seinen bedingungslosen Einsatz für den Frieden, erlebte ich selbst eine Versöhnung mit der Kirche, die ich nach meinem Theologiestudium verlassen hatte, weil ich auf zu viel imperialistische Strukturen der Unwahrheit und Unterdrückung gestoßen war.

Hier an den Steinen in der Nähe der kleinen Kapelle vollziehen wir unsere Morgenandacht.
Ursprünglich wollten wir uns nur in unserer kleinen Reisegruppe zu viert treffen, der Angewohnheit einer gemeinsamen Morgeneinstimmung folgend. Aber Indra und Rajendra schließen sich sofort an und nach und nach kommen auch die anderen dazu. Wir räuchern die Steine und sprechen unsere Gebete. Rajendra trommelt gleich alle zu einem kleinen Film zusammen: „Wasser, Frauen und Flüsse, das sind unsere Gottheiten“, ruft er aus und er bittet uns alle, es in unserer Sprache zu wiederholen. Er spricht von den fünf Elementen, die zusammen das bilden, was sie Bhagwan, das Göttliche nennen.

Ich fühle immer noch recht schwach und lege mich nach diesem ersten kleinen Ausflug in die Gemeinschaft wieder hin. Nach dem Frühstück treffen wir uns alle zusammen und jeder erzählt ein wenig über sich, warum wir hier sind und was unser Anliegen ist.

Rajendra fragt uns gründlich über die Comunidad de Paz aus. Für Andrea, die seit über 18 Jahren immer wieder Zeit hier verbringt, ist dieser Ort „ihre zweite Heimat“ und sie erzählt mit bewegenden Worten die Geschichte der Friedensgemeinschaft. Helena ergänzt die Bedeutung der Befreiungstheologie und deren tiefe Funktion und Entschlossenheit, gewaltfreie Wege zu suchen. Ich erzähle, wie sehr uns die Gemeinschaft damals auf den Gedanken brachte, einen globalen Campus zu gründen. Das Projekt lebt von der großen Vision, dass sich entstehende Friedensmodelle auf dieser Erde gegenseitig erkennen und unterstützen.

Es ist ein weiches beieinander Landen. Andrea und Katja fahren anschließend in die Stadt, um letzte Besorgungen zu machen. Elisa überarbeitet unsere Tagbücher und es ist ein schönes stilles Arbeitsklima.

 

Sonntag, 3. November

Es ist Katjas Geburtstag. Wir nutzen diesen Tag, um auf ihr Leben zu schauen und machen gemeinsam eine Runde zur sogenannten „anderen Realität“. Wir feiern ihr großes solidarisches Herz. In ihrer eigenen Jugend wurde sie Zeuge von häuslicher Gewalt und so wusste sie früh, dass es im Bereich von Liebe und Sexualität neue Lösungen braucht. Seit 2000 geht sie mit uns den Weg der Gemeinschaft. Mit ihrer großen Liebe zu Tieren und Pflanzen hält sie seit vielen Jahren die Arbeit in Terra Deva aufrecht. 2005 reisten sie, Andrea und Bijou zusammen das erste Mal zur Friedensgemeinschaft hier in Kolumbien.

Am späteren Vormittag treffen wir die Delegation der „Defend the Sacred Allianz“ und hören uns gegenseitig zu. Helena berichtet uns hautnah über die Ereignisse in Gaza, wo sie in den letzten Jahren als Psychologin in der Organisation „Doctors of the World“ arbeitete. Sie ist wie viele von uns in ihrer Seele tief erschüttert von der gegenwärtigen Ereignissen und sagte: „Ich bin dabei, den Glauben an die Menschheit zu verlieren.“

Woher die Kraft nehmen, wenn die Hoffnung dabei ist, zu schwinden? Wie vermeiden, dass die Seele abhärtet und das Mitgefühl der Verzweiflung weicht? Sie berichtet uns, wie nährend der Aufenthalt in Tamera für sie war, als sich eine ganze Gruppe engagierter FriedensarbeiterInnen traf und alle sich mit ihren Fragen, Ängsten und auch ihrer Verzweiflung gegenseitig mitteilen konnten. Für sie trug die Tatsache, dass wir aus Tamera auch hier sind, wesentlich zu ihrer Entscheidung bei, mit der „Defend the Sacred Allianz“ nach Kolumbien zu reisen.

Rajendra bittet mich um ein Treffen. Wir sitzen zusammen auf der Veranda unseres Hauses und tauschen uns aus, aber werden ständig unterbrochen, weil Menschen aus der Friedensgemeinschaft zur Begrüßung kommen.

Für mich ist es herausfordernd, trotz einem inneren Schwächegefühle bei der Kraft zu bleiben.

„Die Kraft kommt immer. Es sind nur persönliche Befindlichkeiten und Interpretationen, die uns davon abhalten wollen.“

Am frühen Nachmittag besucht uns Padre Javier. Seine Erzählungen machen wenig Hoffnung. Ich bewundere seine ruhige Kraft, wie er unbeirrbar bei seiner seelischen und politischen Wahrheit bleibt. Er führte viele Gespräche mit dem gegenwärtigen Präsidenten und beschreibt es sehr nüchtern:

„Petro hat zwar gute Absichten, aber nicht die Macht. Die wirkliche Macht liegt beim Paramilitär. Die Geschichte der Entstehung des Paramilitärs in Kolumbien zu verstehen, verlangt ein ganzes Studium. Im Moment liegt die zentrale Macht in dieser und anderen Regionen des Landes bei denjenigen, die ‚Clan del Golfo‘ genannt werden.“

Anschließend treffen wir den „Consejo“, den von der Gemeinschaft gewählten Rat, der die leitende und koordinierende Rolle innehat. Sie stellen uns den Plan für die kommenden Tage vor und erzählen uns auch, dass sie wieder Morddrohungen erhalten haben.

Am Abend zu Sonnenuntergang gehe ich in die Meditation für den Ring der Kraft. Aus unserem Steinkreistarot wird die Karte „Almendres“ gezogen. Sie verbindet uns mit dem urgeschichtlichen Friedenswissen jeder Region. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass jede Region ein Friedenswissen hütet, mit dem wir uns verbinden können. Es ist der Gedanke, dass überall die Grundlage für ein mögliches Heilungsbiotop gegeben ist, und indem wir lernen, uns mit dem Erdenhüterwissen zu verbinden, erhalten wir die Informationen, die wir brauchen.

„Mit der bewussten Entscheidung, in heiliger Weise zu leben, erhalten wir die Informationen, die Lehren und das Verständnis, das wir brauchen, um unsere Gaben zum Wohle aller zu entfalten“, sagte Dhyani Ywahoo von den Cherokee Indianern.

Immer, wenn ich hier in Kolumbien bin, fühle ich die Wirkung und Energie bestimmter Kraftorte. Die Kerninformation hier hat viel mit dem Aspekt der Fülle und des Wildlebens zu tun. Das sind Kernqualitäten, die wir gesellschaftlich vollkommen verloren haben.

 

Montag, 4. November

Am frühen Morgen zu Sonnenaufgang um 5.55 Uhr sind wir eingeladen, eine kleine Meditation abzuhalten. Wir versammeln uns in der Nähe der Kapelle. Dort, wo wir 2008 den kleinen Steinkreis errichteten. Es kommen viele Mitglieder der Gemeinschaft. Gabriel beginnt mit einem Lied und ich suche nach schlichten Worten, die uns auf die kommenden Tage vorbereiten.

Ich lade Rajendra ein, ein kleines Wassergebet zu sprechen und anschließend singen wir das portugiesische Lied, das Mafalda auf unserer Wasserpilgerschaft durch Portugal „empfing“.

„A agua e um ser, tem alma, tem memoria, tem saber.“ „Das Wasser ist ein Wesen, es hat eine Seele, es hat Erinnerung, es hat Wissen.“

Es tut gut, sich auf diese Weise hier vor Ort zu verankern.

Dann folgt der erste Tag der Universidad de la Resistencia. Am Vormittag berichtet der Padre recht ausführlich von der Entstehung der Friedensgemeinschaft. Eine erschütternde Geschichte darüber, wie sie durch alle Widerstände hindurch dem Prinzip der gewaltfreien Revolution treu geblieben sind.

1997 gab es die erste Gründungsversammlung. Die Gegend von San Josecito war eine Art Korridor, um Drogen und Waffen zu transportieren. Im Grunde hatte man nur zwei Möglichkeiten, entweder den Anweisungen des Militärs und Paramilitärs zu folgen, oder denen der Guerilla. Wer nicht bereit dazu war, wurde vertrieben oder ermordet.

1995 machte ein Bischof auf einer Bauernversammlung in San José den Vorschlag, eine öffentliche Erklärung abzugeben, dass sie nicht Teil des Krieges sind. Daraufhin erklärten einzelne auch indigene Gruppen ihre Neutralität. Sie waren nicht länger bereit, sich auf die Seite einer der bewaffneten Gruppen zwingen zu lassen.

Da der Begriff „Neutralität“ später für andere Deutungen missbraucht wurde, brauchten sie ein neues Wort und zu Ostern 1997 gab es dann die erste öffentliche Erklärung als „Friedensgemeinschaft“.

Aufgrund der vielen Vertreibungen, stand das Dorf San José fast leer und die Menschen der Friedensgemeinschaft bezogen die leeren Häuser. Eine Kommission aus Bogotá beschloss, gemeinsam mit dem Padre Javier Giraldo und dem Visionär Eduar Lanchero die mutigen Campesinos zu begleiten.

Gloria Guartas war zu der Zeit Bürgermeisterin von Apartadó. 2001 entstand die Idee der „Universidad de la Resistencia“ (auf Deutsch: „Universität des Widerstands“) und 2004 fand die erste Veranstaltung dazu statt.

2005 bezogen sie das Gelände, wo heute die Friedengemeinschaft lebt, nachdem im Dorf San José infolge eines Massakers an 8 Personen Militär stationiert wurde, was nicht mit ihrem Prinzip des Nichtbesitzes von Waffen vereinbar war. Hier wollten sie ein Leben und Forschen für die Entstehung einer autonomen Gemeinschaft beginnen, wo sie jeder Art von bewaffneten Gruppen seitdem keinen Zugang gewähren.

Ich möchte jetzt nicht weiter in die Details gehen, es gibt einen ausführlichen Bericht über die Entstehung der Friedengemeinschaft auf unserer Tamera-Webseite und auch Elisa, die als Dolmetscherin und Journalistin mit uns hier ist, berichtet in einem Interview mit Arley zum Mord im März und einem aktuellen Artikel dieser Woche mehr Details.

Es wird ein intensiver Tag: Die verschiedenen Gruppen aus Kolumbien stellen sich vor. Unsere Aufgabe besteht vor allem in der Präsenz und wir lernen viel über die anderen Gemeinschafs- und Widerstandsprojekte.

Wir spüren die Erschöpfung und Müdigkeit der Menschen. Die Gemeinschaft ist auf wenige entschlossene Mitglieder geschrumpft. War es früher vor allem eine Flüchtlingsgemeinschaft, die Schutz unter der Leitung einiger engagierter Leitungskräfte suchte, so ist es jetzt eher eine Gemeinschaft von Menschen, die auf jede Art von Luxus verzichten, die wissen, warum sie hier sind und die nach wie vor in der Gemeinschaftsgründung eine zentrale Möglichkeit sehen, der Gewalt des Staates etwas entgegenzusetzen.

Viele haben die Gemeinschaft verlassen, da ihnen Geld vom Paramilitär oder Staat angeboten wurde und sie ein etwas ruhigeres und bequemeres Leben gesucht haben.

Man muss die Hintergründe des Paramilitärs kennen, um diese Vorgänge wirklich zu verstehen. Am Abend sind wir so gefüllt mit Informationen, dass wir früh zu Bett gehen.

 

Dienstag, 5. November

Ein weiterer Tag mit vielen Informationen.

Am Vormittag klärt uns der Padre über die Hintergründe vom Paramilitär auf. Hier nur ein paar Stichpunkte aus meinen Notizen:

Er führt aus, dass man seit Präsident Santos in der Öffentlichkeit die Ansicht verbreitet, dass es kein Paramilitär mehr gäbe, während in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall ist. Nur sind die Prozesse viel versteckter und undurchschaubarer geworden.

Der offizielle Beginn des Paramilitärs war in den 60iger Jahren. Er zeigt die Zusammenhänge in die Vereinigten Staaten auf, wo 1962 unter William P. Yarborough dazu aufgerufen wurde, den dritten Weltkrieg vorzubereiten und alle Gemeinschaften in Lateinamerika auszulöschen. Ab da wurde der Begriff von Kommunismus (Comunismo) und der von Gemeinschaften (Comunidad) gleichgesetzt.

1969 wurde das Recht zur Selbstverteidigung ausgerufen. Zivile Gruppen wurden autorisiert, Waffen zu benutzen. Es war im Interesse derjenigen, die an der Macht waren, die Zivilbevölkerung in den Krieg einzubeziehen. Seit 1978 ging es offiziell um den Antikommunismus. Viele Menschen aus dem Militär zogen in der Nacht Zivilkleidung an, um Massaker gegen die sogenannten Kommunisten zu begehen. Alle, die diesen  Anweisungen folgten, bekamen hohe Posten.

Die Koordination zwischen den verschiedenen Gruppen wurde immer komplexer. Die Bereiche Kolumbiens mit der höchsten Bevölkerungsrate erlebten eine Invasion des Paramilitärs. In dem ganzen Vorgang nennt der Padre verschiedene Entwicklungsstufen. Zunächst die offizielle Ausrufung des Terrors, dann der offizielle Mord an Vertretern der Linken.

Bevor ich weiter auf die politischen Hintergründe eingehe, möchte ich ganz aktuelle Nachrichten einfügen, die unsere Herzen sehr bewegen. Ich versuche, die Informationen zu bündeln. Schon während der Veranstaltung mit dem Padre fiel mir auf, dass Mitglieder vom Consejo immer wieder zum Telefon griffen und miteinander kurz in Kontakt gingen.

Gegen Mittag erfahren wir dann von einem Mitglied der Gemeinschaft, dass in Medellín ein Mord an einem jungen Mann stattgefunden hat, Bradier, dessen Mutter und Geschwister hier in der Gemeinschaft leben.

Bradier war noch ein junger Mann, 18 oder 19 Jahre alt. Er war eigene Wege gegangen und hatte sich im Laufe der letzten Monate immer mehr von der Gemeinschaft entfernt. Schließlich ging er nach Medellín. Heute kam der Anruf, dass er ermordet wurde. Die Nachricht erschüttert uns alle.

Der Consejo beschließt, trotzdem mit der Veranstaltung fortzufahren. Ich kann mich nur ansatzweise in ihre Position versetzten, weil auch in Tamera in letzter Zeit Menschen während öffentlicher Veranstaltungen diese Erde verlassen haben. Es ist eine große Herausforderung, den intimen Raum zu hüten und gleichzeitig die Verbindung zu den Gästen aufrechtzuhalten.

Helena ist mit ihrem großen Herzen sofort und jederzeit in Aktionsbereitschaft. Ich laufe mit ihr zu unserem Hause und versuche die Information in meinem Herzen landen zu lassen. Wir kommen an dem Haus vorbei, wo wir das Weinen der Mutter hören, die gerade ihren Sohn verloren hat.

Martha bittet uns hineinzukommen. „Anteilnahme ist immer gut“, sind ihre schlichten Worte. Wir halten die weinende Frau in unseren Armen. Leben und Tod – wie nah diese beiden Kräfte hier ständig beieinander sind.

Später treffen wir auf dem Weg Nevaith, die junge Frau von German, einer der leitenden Kräfte in der Gemeinschaft, die zusammen mit Luis Miguel die Moderation der Tage durchführt. Nevaith ist enorm gereift, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Es ist herausfordernd für Frauen, an der Seite von charismatischen Leitern, ihre Position zu finden und einzunehmen. Sie liest uns die neuen Morddrohungen vor, die sie veröffentlicht haben, und ich spüre ihre Angst:

„Dringend! Zu dieser Stunde, mitten in der Sitzung der Bauernuniversität (Anmerkung: Die ‚Bauernuniversität‘ nennen sie auch die ‚Universität des Widerstands‘, sie verwenden beide Namen), erhalten wir heftige Morddrohungen gegen unsere Gemeinschaft. In den letzten drei Tagen haben wir die Anwesenheit von bewaffneten Personen in der Nähe unserer Privatgrundstücke La Roncona und La Holandecita festgestellt.“

Vor einigen Tagen hatte uns German schon erzählt, dass es wieder Morddrohungen gäbe, und er bat uns, uns immer wieder ein wenig auf der Straße vor dem Gelände „La Holandecita“ aufzuhalten, wo der Großteil der Gemeinschaft lebt und die Universität des Widerstands stattfindet, um etwas Schutz zu geben, damit sie dort ihre Arbeit tun können.

Niemand hier rechnet damit, dass wir als Internationale angegriffen werden. In ihrer Schau ist es so, dass man versucht, uns glauben zu lassen, dass all diese Morddrohungen Erfindungen sind und es sich in Wahrheit um interne Konflikte handelt. In der Öffentlichkeit hat sich immer mehr das Bild durchgesetzt, dass es kein Paramilitär mehr gibt. Und auch wir selbst bekommen von der Präsenz bewaffneter Leute nichts mit, da sie sich sehr diskret zeigen, damit wir der Gemeinschaft nicht glauben. Die Realität kennen nur diejenigen, die beständig sehr nah an den Gruppen dran sind, die unter täglicher Bedrohung stehen.

Das Leben hier ist so wild und unberechenbar, wie die Natur. Man erfährt vom Mord, man liest die Drohbriefe, man trauert und weint mit ihnen und kurz danach kommt eine Gruppe von jungen Mädchen in den offenen Veranstaltungsort unterm Strohdach und führt uns Tänze auf. German erklärt in der Ankündigung:

„Wir könnten unseren Schmerz nicht ertragen und auch nicht die Angst, wenn wir uns nicht immer ganz nah an die Seite des Lebens stellen würden.“

Am Anfang hatte ich es schwer mit dem Entschluss mitzugehen, dass sie die Universität des Widerstands einfach fortsetzen. Ich wollte alles anhalten, um uns einmal ganz auf das Geschehen zu konzentrieren, aber nach einiger Zeit spürte ich, dass auch eine Weisheit in ihrer Art steckte, ihren Schmerz und ihre Trauer zu erlauben und trotzdem da zu sein für das Zusammengehörigkeitsgefühl als größere Gemeinschaft, die wir alle jetzt für diesen Zeitraum sind.

Nach dem Abendessen versammeln wir auf unserer großen Veranda unsere Tamera- und „Defend the Sacred“-Gruppe und beraten, was zu tun ist. Es ist gut, dass wir eine recht kleine Gruppe sind und jeder von uns versucht den Ort zu finden, wo wir dem Ganzen dienen können.

Indra, der junge sehr engagierte Assistent von Rajendra, schlägt eine Öffentlichkeitsaktion vor. Alle wollen helfen, aber wie? Gabriel hat die höchste helfende Energie durch seine Gesänge. Indem er voller Leidenschaft seine Lieder einbringt, gibt es einen emotionellen Kanal, wohin man die innere Verzweiflung, die Suche, die Empörung, die Ratlosigkeit oder auch Trauer ausrichten kann.

Gleichzeitig müssen wir, die wir seit vielen Jahren regelmäßig in die Gemeinschaft kommen, immer wieder die mahnende Stimme erheben: Oft ist es keine Hilfe, was wir für Hilfe halten. Wir beschließen, keine Aktionen zu starten, ohne alles mit dem Consejo zu besprechen.

Es ist ein Glück, dass Helena mit uns ist. Mit ihren Spanischkenntnissen und ihrer erfahrenen Art, hat sie ein feines Gefühl dafür, wann und wie sie agieren soll.

Es war ja auch für uns ein geistiges Abenteuer, mit einer Gruppe hierher zu reisen, in der wir zwar alle kannten, aber ohne diese Reise in der Tiefe vorbereiten zu können, wie wir es normalerweise machen würden. Dennoch fühlt es sich so an, als habe der Kosmos richtig gewürfelt und die richtige Konstellation zusammengestellt.

Am späten Abend sitzen wir noch in unserm kleinen Frauenkreis beieinander. Wir tauschen uns darüber aus, wie wir uns fühlen und was wir im Moment für sinnvoll halten. Das erste Mal taucht in uns der Zweifel auf, ob wir als Internationale wirklich so geschützt sind. Die Verhältnisse sind chaotischer geworden, Wut, Hass und Gier haben sich verselbständigt, ein kleiner Raubüberfall auf ein paar „Gringos“, die angeblich viel Geld in der Tasche haben, könnte eine perfekte Tarnung sein für eine politische Aktion, um die Gemeinschaft zu schwächen. Unsere kleine „Villa“ liegt direkt an der öffentlichen Straße. Helena schlägt vor, dass wir es einmal in der Gemeinschaft thematisieren, wie man sich am besten verhält, sollte ein Notfall eintreten.

Ich weiß aus Erfahrung, dass der beste Schutz wirklich gute und kraftvolle Gedanken sind. Unser Zellsystem enthält unbewusste Programmierungen. Starke Befürchtungen ziehen entsprechende Realitäten an und wirklich machtvolle Heilungsgedanken auch.

Es ist eine zentrale Strategie unserer Heilungsarbeit, dass wir eigene unbewusste Programmierungen, die aus der alten Kriegsmatrix kommen, durchschauen und transformieren. Trotzdem ist es natürlich wichtig, dass es wir auch unsere Ängste erst einmal wahrnehmen. Ich schlage vor, dass wir uns vor dem Einschlafen auf den Gedanken von Peace Pilgrim konzentrieren: „Was ist das Beste, was passieren könnte?“

Wir gehen zu Bett und es wird eine relativ schlaflose Nacht.

Ich denke darüber nach, wie die Macht des Lebens am besten durch uns wirken kann, wenn wir uns sehr schwach fühlen. Gerade, in Augenblicken wo wir uns selbst eher ohnmächtig fühlen, kommen Gedanken auf, dass wir mehr leisten müssen, dass es nicht genügt, was wir gerade tun etc. Gerade darin aber liegt die Falle, denn es ist klar, dass wir aus „eigener Macht“ wenig bewirken können. DIE KRAFT aber kann immer, und wir sollten uns ihr nicht in den Weg stellen.

Bellende Hunde wechseln sich ab mit dem Krähen der Hähne, die bereits um 1 Uhr nachts lauthals ihre Organe erheben. Ab 3 Uhr übernimmt die Eule.

Was möchte ans Licht in der Friedensbewegung, damit wir wirklich in eine gemeinsame kohärente Schwingung treten und die Manifestationswunder eintreten können, die jetzt so dringend gebraucht werden? Wie kommen spirituelle Kraft und politisches Handeln so zusammen, dass sie sich gegenseitig ergänzen? Tamera, die Comunidad de Paz und viele engagierte Gruppen stehen vor dieser Frage. Einige haben die Tendenz, sich in ständigen Organisationsdebatten zu verlieren, andere flüchten sich in spirituelle Übungen, um der schwierigen Realität zu entkommen.

 

Mittwoch, 6. November

Es ist der Tag unserer Präsentation. Ich erwache erschöpft, fast ein bisschen zerschlagen. Im Gebet bitte ich in aller Ruhe darum, dass meine Führungskräfte jetzt übernehmen sollen.

Die zwei Stunden unserer Veranstaltung vergehen wie im Flug. Es ist enorm, wie wach das Publikum ist. Ich selbst bin immer wieder nach der Informationsfülle wie erschlagen, aber hier werden alle Informationen hungrig aufgenommen. Wir zeigen einige kleine Filme über Tamera, und über unsere Strandaktion der „Defend the Sacred Allianz“.

Rajendra ist es ein großes Anliegen, die ursprüngliche Gründungsidee der Allianz wieder mehr zu aktivieren. Er sieht Martin Winiecki und mich als die beiden ursprünglichen Gründungskräfte und ist der Ansicht, dass Tamera wieder mehr in Erscheinung treten sollte. Er ist betrübt darüber, dass Martin nicht unter uns ist. Er möchte diese Zeit dafür nutzen, dass wir uns austauschen darüber, was die Allianz in unseren Leben bewirkt hat.

Für mich steht im Herzen der Gründung die Verbindung von spiritueller und politischer Aktion. Gleichzeitig die Bereitschaft, Versöhnungsarbeit zu machen zwischen den verschiedenen Kulturimpulsen, wo wir die Geschichte von Opfer und Täter an uns selbst studieren und auflösen können.

Ich erinnere mich gut an die vielen Auseinandersetzungen, die wir bei unseren ersten Versammlungen führen mussten, wo viele gegenseitige Projektionen aufeinanderstießen. Aus meiner Sicht braucht eine wirksame Strategie in der Außenarbeit diese Vertiefung nach innen, um wirksam werden zu können.

Was für Auseinandersetzungen habe ich damals geführt mit Rajendra, der sich darüber empört hat, warum wir immer wieder das Thema von Eros und Sexualität so ins Zentrum stellen. Ich sprach mit ihm lange und ausführlich über die Parallelität der Themen von Wasser und Eros. „Sie haben mit dem Eros dasselbe gemacht, wie mit den Flüssen“, schreibt Dieter Duhm in „Der unerlöste Eros“. Sie haben ihn gestaut und in falsche Kanäle gezwängt. Dadurch wurde uns in den Gemeinschaften das Vertrauen (was für das Wasser der Humus ist) fortgenommen und der Eros wurde gewalttätig und grausam oder verdorrte.

Dass unsere Kultur auf Krieg und Verteidigungsministerien aufbaut, wird allgemein schweigend geduldet. Aber immerhin darf man öffentlich sagen, dass wir Waffenruhe fordern. Wenn wir sehen würden, welche Art von sexueller Grausamkeit dort geschieht, wo die zivilen Gesetze ihre Risse bekommen, wir würden schreiend davon laufen.

Helena berichtet, wie viel sexuelle Gewalt derzeit auch in Gaza geschieht, während die Öffentlichkeit weiter das Bild aufrechterhält, als ginge es hier „nur“ um gezielte militärische Aktionen, um die Welt vor dem Terror der Hamas zu schützen. Mir fehlen oft die Worte, um hier noch sprechen zu können. Ich weiß nur eines: Wenn wir den Krieg beenden wollen, müssen wir seine wahren Ursachen kennen und auflösen, in uns selbst und in der Welt. Das können wir nicht allein tun. Wir müssen entdecken, durch was die Felder entstehen, die tatsächlich mehr Macht haben, als die Gewalt. Diese Art von gemeinsamer politischer und spiritueller Aktionsbereitschaft fehlt mir in letzter Zeit oft in Tamera. Ich brauche die tägliche seelische Verbindung von geistiger, lokaler Aktion und ihre Verbindung ins Globale. Ohne wirkliche Globalität, die ihren Anker im direkten sozialen und spirituellen Leben hat, ist es schwierig an den Erfolg zu glauben.

Zurück zu unserer Präsentation. Sie ist mir trotz meiner „Schwäche“ gelungen. Ich habe durch den größten Teil hindurchgeführt, zusätzlich haben Andrea und Katja über ihre Arbeit in Tamera gesprochen und das war gut. Natürlich haben wir auch die vielen Verbindungslinien zum Globalen Campus und zur Universität des Widerstandes aufgebaut. Der Globale Campus war für die Friedensgemeinschaft ein Meilenstein, den sie immer wieder hervorheben. Was für Erinnerungen kommen da hoch. Auch eine Traurigkeit: Wir träumten einen großen Traum, ich halte diesen Traum immer noch für wahr und für richtig. Aber wir haben in unserem Aufbruchsgeist viele Details übersehen, dadurch gehen die Dinge viel langsamer, als ursprünglich gedacht.

Eine wirklich internationale Gemeinschaft aufzubauen, die gemeinsam forscht lebt und denkt, ist eines der größten Abenteuer dieser Zeit. Hier liegt ein zentrales Geheimnis von Diversität und Einheitlichkeit.

Nach unserer Rede spricht Padre Javier über einige seiner Erinnerungen. Es ist immer wieder berührend zu erleben, wie tief sie Tamera lieben und wie tief unsere Verbindung ihnen bis heute Kraft gibt, ihren Weg weiter zu gehen. Um überhaupt in der Lage zu sein, mit dem Tagebuch weiter zu kommen, lasse ich die detaillierten Einzelberichte weg. Elisa und ich haben vor, uns gegen Ende daran zu machen, eine politische soziale Gesamtschau aufzuschreiben.

Am Abend besucht uns noch Arley. Er berichtet über den großen Wert der Gemeinschaft, den sie derzeit fühlen, um gemeinsam die vielen Bedrohungen zu meistern und vor allem für die Menschen da zu sein, die gerade Familienmitglieder verloren haben. Im Frühjahr diesen Jahres wurden Nallely und der Bruder ihres Mannes, der 14-jährige Edinson, ermordet. Sie hat hier ihren Mann, einen Sohn und eine Tochter zurückgelassen, die einen anderen Vater hatte. Der Mann lebt sehr zurückgezogen und die tägliche stille Arbeit hilft ihm, den Schmerz des Verlustes zu verdauen.

Arley erzählt, wie sie sich darum bemühen, für alle eine gemeinschaftliche Einbettung zu schaffen. Die 13-Jährige hat Familienmitglieder außerhalb der Gemeinschaft, aber sie wollte weiter in der Comunidad de Paz leben. „In solchen Momenten erkennen wir den tiefen Wert der Gemeinschaft“, sagt Arley.

Nach Gesprächen mit dem Padre und einigen vom Consejo, erscheinen  die Morddrohungen in einem anderen Licht und nicht so aktuell. Sie denken, dass die Gefahr viel geringer ist, wenn Internationale vor Ort sind und dass die Schwierigkeiten eher kommen werden, wenn wir alle weg sind.

Sie geben uns grünes Licht, dass wir uns eine Langzeitstrategie ausdenken.

 

Donnerstag, 7. November

„Dein Leben sei dein Gebet“, folge heute, so gut du kannst, deiner inneren Führung. Ich fühle heute das erste Mal wieder etwas körperliche Kraft.

Wie fast jeden Morgen lesen wir in den „Quellen der Liebe und des Friedens“ und kommen ins Gespräch darüber, was es wirklich heißt, der inneren Stimme zu folgen, und was es bedeutet unter uns transparent zu sein und zu bleiben. Wir sind alle etwas dünnhäutig und es ist gut, einmal auch etwas Zeit für unsere Innenvorgänge zu haben.

Es ist eine Kunst in den Gesprächen bei der Andacht zu bleiben. Jede von uns hat Punkte, wo wir uns leicht „getriggert“ fühlen und wir berühren im Gespräch auch diese Stellen. Wirkliche Kohärenz entsteht, wenn wir nichts mehr voreinander verbergen müssen und die Unterscheidung zwischen unserer eigenen göttlichen Realität und unseren Egopunkten tatsächlich kennen. Es ist natürlich, dass das eine langfristige Arbeit fordert. Elisa drückt ihre Dankbarkeit und Berührung darüber aus, dass sie alle diese Momente mit uns erleben kann und dass Katja, Andrea und ich auch unsere „labilen“ Stellen transparent machen.

Jetzt mache ich nur noch Stichpunkte, weil ich gleich schon wieder zum nächsten Treffen muss.

Gloria Cuartas war heute Nachmittag für ein paar Stunden extra zu Besuch hier und ich möchte ihre Rede hervorheben. Sie hat mit ihrer enormen Kraft, ihrer Liebe und Anteilnahme für die Gemeinschaft gesprochen, mit ihrer Treue zur Gemeinschaft und ihrer Aufgabe als politische „Funktionärin“. Sie drückt ihre Verzweiflung darüber aus, wie schwer es ist, in einer Regierung zu arbeiten, die mit einer so starken Opposition konfrontiert ist. Sie haben noch etwa 1 Jahr, dann geht es erneut in die Wahlen. In dem Moment, als sie über Gaza spricht, geht ihre Rede fast in eine Performance über.

„Wo ist das Herz der Menschheit? Wie ist es möglich, dass niemand agiert und aufsteht? Das ist es, was ich an euch so liebe. Ihr steht auf, ihr schweigt nicht, ihr seid ein lebendiges Beispiel für wahre Revolution und ich werde immer an eurer Seite stehen.“

Sie spricht über die Herausforderungen ihrer Arbeit und was es bedeutet, die Wahrheit wirklich ans Licht zu bringen. Sie bittet die Gemeinschaft:

„Lasst die Regierung nicht im Stich! Fordert ein Gespräch mit dem Präsidenten ein, wo ihr euch nicht gesehen und unterstützt fühlt. Er braucht solidarische Auseinandersetzung und Gespräch.“

Wir können fühlen, wie sehr sie ihn schätzt und wie tief sie befürchtet, dass auch dieser Ansatz scheitern wird. Immer wieder bedankt sie sich für ihre Kooperation mit Tamera und wie sehr Tamera ihr Hoffnung gegeben hat.

Natürlich bleibt der Sieg der Wahlen in Amerika nicht unerwähnt, und man vermutet nichts Gutes für Kolumbien, latent rechnen sie und viele andere mit einem Weltkrieg. Nach ihrer Rede frage ich sie: „Wie kann Tamera euch gerade am besten helfen?“

„Ihr seid ein Licht der Hoffnung für uns. Alle, die Tamera besucht haben, haben dort neue Kraft, neue Ausrichtung bekommen für ihre Arbeit. Macht weiter, gebt nicht auf. Und helft mit, dass es wahre Informationen gibt über unsere Arbeit hier. Wenn wir hier so überflutet werden mit negativen Informationen, so seid ihr immer eine Oase der Kraft, die die wahre Vision hervorhebt und den Grundgedanken der Gemeinschaft als Keimzelle für die gewaltfreie Revolution kennt und immer hervorhebt. Wir brauchen euch!“

 

Freitag, 8. November

Bei unserem täglichen Morgenorakel, bei dem wir das Buch „Quellen der Liebe“ auf einer zufälligen Seite aufschlagen, bekommen wir genau wie gestern den Hinweis: „Dein Leben sei dein Gebet.“

Andrea und ich gehen direkt ohne Frühstück in Begleitung von Don Carlos ins nahegelegene Dorf San José zum Gesundheitszentrum, um die Fäden an meiner Kopfwunde ziehen zu lassen. Wir werden herzlich empfangen und eine Ärztin kontrolliert die Wunde und zieht meine Fäden. Es scheint alles gut zu verheilen und ich bin dankbar. Auch Andrea ist richtig erleichtert. Für meinen immer noch auftretenden Schwindel hat die Ärztin eine Erklärung und schlägt mir tägliche Übungen vor.

Als wir zurückkommen, geht es direkt weiter zu einer Messe, um Bradier zu verabschieden. Es wird gesungen und gebetet, Levis hält seine weinende Mutter in den Armen. Anschließend gehen wir mit der versammelten Gemeinschaft zu dem vorbereiteten Grab, um den Sarg in die Erde einzulassen. Ich habe kaum Worte für die Vorgänge. Die Mutter weint immer heftiger und ruft: „Warum? Warum? Bradier, komm zurück! Steh auf!“ Sie klopf auf die Sargscheibe, durch die man das blasse Gesicht des jungen Mannes sieht. Immer mehr Menschen beginnen, heftig zu weinen. Auch Levis, der während der ganzen Messe seine Mutter gehalten hat, bricht jetzt in Tränen aus und sinkt auf die Erde. Ich gehe immer wieder zu Einzelnen hin. Es ist, als würde ich die Seele von Bradier fühlen, der ihnen mitteilen möchte, dass es ihm gut geht. Mein Gefühl sagt mir, dass er in diesem Moment der Gemeinschaft näher ist, als er es in den letzten Monaten war. Aber das ist schwer zu erklären. Ich bin berührt, von der gesammelten Haltung, mit der der Padre die Gemeinschaft durch diesen schmerzhaften Prozess begleitet.

Inzwischen ist schon wieder abends. Es geschehen so viele Dinge hier, dass wir selbst kaum noch mitkommen. Gegen Mittag treffen wir uns mit unserer kleinen Gruppe, die alle sehr berührt sind von den Ereignissen, und bereiten uns auf den Global Grace Day und unser Ritual dazu morgen früh bei Sonnenaufgang vor.

Wir sind dankbar, dass wir mit Menschen in der Welt verbunden sind, die mit ähnlicher Entschlossenheit nach gewaltfreien Lösungsmodellen suchen, wie es hier die Gemeinschaft tut.


Hier geht es zum ersten Tagebuch dieser Reise

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