Terra Nova

Vernetzte Intelligenz: das revolutionäre Subjekt des Systemwechsels

 


Martin Winiecki, weltweit agierender Aktivist, Netzwerker und Theoretiker für die friedliche Umwälzung, bietet einen zehntägigen Onlinekurs zum Thema «Systemwechsel» an. Im Interview erläutert er mir seine Gedanken und Erfahrungen.

Frage: Du leitest einen Online-Kurs zum Thema Systemwechsel. Worin besteht der anstehende Systemwechsel?

Martin: Ganz vereinfacht gesagt: Der Systemwechsel besteht darin, unsere menschlichen und gesellschaftlichen Systeme wieder in Überstimmung zu bringen mit den Prinzipien, der Logik und den Zyklen des Lebens selbst. Wir stehen im Moment an einer gefährlichen Grenze von Natur- und Klimakatastrophe, gesellschaftlichem Zusammenbruch und wieder aufkeimendem Faschismus. Diese Krisen sind kein Zufall, sondern Symptome eines Systems, welches der Logik des Lebens diametral entgegen gerichtet ist. Es bezahlt «Fortschritt» durch kontinuierliche koloniale Gewalt und einer nie da gewesenen, sich immer weiter beschleunigenden Ausbeutung natürlicher Systeme. Natürlich spreche ich vom Kapitalismus, aber der Begriff allein greift meiner Meinung nach nicht tief genug, denn der Kapitalismus selbst beruht auf anderen unterdrückerischen Systemen wie das Patriarchat und die weisse Vorherrschaft («white supremacy»). Er ist lediglich die wirtschaftliche Seite der Moderne. Um das System wirklich zu verändern, brauchen wir ein ganzheitliches, intersektionales Verständnis der Strukturen, Gedankenfelder und psychischen Kräfte – einschliesslich in uns selbst –, die es ständig weiter am Laufen halten. Und wir brauchen gleichzeitig eine realistische Vision für eine globale Alternative.

Was in der Weltsituation macht dir am meisten Sorgen, welche Nachricht findest du am alarmierendsten?

Martin: Das ist schwer zu beantworten, denn es gibt so viele alarmierende Krisen. Für mich ist es weniger eine bestimmte Nachricht als das Muster, was sich in der globalen Zusammenschau ergibt. Durch das Studium untergegangener Reiche wie das der Maya oder Rom nennen Historiker typische Zeichen für den bevorstehenden Kollaps von Zivilisationen: Übernutzung natürlicher Ressourcen, Abholzung der Wälder, plündernde Eliten, soziale Ungleichheit, totalitäre Machtbestrebungen. Alle diese Merkmale treffen auf unsere heutige Gesellschaft zu, mit dem einzigen Unterschied, dass wir zum ersten Mal vor dem Zusammenbruch eines weltweiten Systems stehen. Und das Problem ist, dass fast alle von uns mit der Erwartung aufgewachsen sind, dass dieses System für immer stabil bleiben und weiter wachsen wird. Wir sind schlecht vorbereitet auf das, was vor uns steht.

Was könnte diesen Systemwechsel auslösen? Welche Ereignisse oder Akteure könnten ihn bewirken?

Martin: Ich glaube nicht, dass das «revolutionäre Subjekt» heute in einer bestimmen einzelnen Gruppe oder Bewegung besteht. Die «Avantgarde» ist, in einem ökologischen Gleichnis besprochen, nicht eine einzelne Art, sondern das Myzel, das die verschiedenen Einzelwesen miteinander vernetzt und zu einem starken Ökosystem der Veränderung macht. Wir brauchen diese vernetzte Intelligenz und ein ganzheitliches Denken, um uns einen Systemwechsel überhaupt vorstellen zu können. In meinem Verständnis gibt es aber «Schlüsselarten» (keystone species) in diesem Ökosystem der Veränderung. Zuallererst sind das die indigenen Kulturen und Wissensträger sowie Wissensträgerinnen, die Beschützer und Beschützerinnen von etwa 80% der verbleibenden Artenvielfalt weltweit. In ihrem unvorstellbaren Widerstand haben sie Kulturwerte und Praktiken der Verbundenheit bewahrt, ohne die es keine Zukunft gibt. Der globalisierte Kapitalismus steuert, als direkter Nachfahre des europäischen Kolonialismus, auf die vollkommene Ausrottung aller dieser ursprünglichen Kulturen zu. Wir brauchen einen festen Ring der Solidarität, um dies zu verhindern.

Eine weitere Schlüsselart sind die sozialen Bewegungen, v.a. im globalen Süden, die Geschwindigkeit der Vernichtung verlangsamen und an vielen Stellen (wie etwa die Landlosenbewegung in Brasilien oder die Bauernbewegung in Indien) Strukturen ausserhalb des Kapitalismus entwickeln. Durch ihren Widerstand haben marginalisierte Gruppen ein Wissen von Gemeinschaft, Solidarität, Autonomie und Resilienz bewahrt, welches essentiell für den Systemwechsel ist.

Wir im Westen können sehr viel von diesem Bewegungen lernen. Sie könnten darüber hinaus, wie Alnoor Ladha sagt, die «Infrastruktur für den Übergang zum Post-Kapitalismus» aufbauen.

Damit das möglich wird, ist ein weiteres Element unabdingbar: Regenerative Gemeinschaften und Ausbildungszentren, die eine solche Infrastruktur möglichst umfassend entwickeln, modellhaft vorleben und das Wissen für ihren konkreten Aufbau weitergeben. Solche Gemeinschaften sind soziale, ökologische und ökonomische Experimente. Eines dieser Versuche ist das Projekt der Heilungsbiotope. Ich selber lebe in Tamera, dem Zentrum des Projekts in Portugal. Hier arbeiten wir an einem regenerativen Modell, in dem die Regeneration von Ökosystemen mit Gemeinschaftsaufbau, Heilung in Liebe und Sexualität, gewaltfreier Kooperation mit Tieren und einem freien Kinderaufwachsen zusammenkommt.

Gibt es Schlüsselfaktoren oder Kipppunkte – die dir, wenn sie geschehen, Hoffnung machen werden?

Martin: Wir können den Kapitalismus nicht, wie die Linke noch bis hin zur Anti-Globalisierungsbewegung träumte, auf einmal weltweit umstürzen. Dafür ist er viel zu komplex und gut organisiert. Wir können aber, wie der visionäre mexikanische Vordenker Gustavo Esteva sagte, autonome Zonen schaffen, die sich seiner Logik entziehen und darin alternative, autarke Systeme entwickeln, die sich vom Kapitalismus unabhängig machen. Darauf beruht im Wesentlichen meine Hoffnung für einen Systemwechsel. Wir haben dafür auch schon starke Beispiele, etwa bei den Zapatisten in Chiapas oder der kurdischen Befreiungsbewegung in Rojava (Nordost-Syrien). Je mehr solcher Experimente sich entwickeln und je mehr sich diese vernetzen, umso besser stehen unsere Chancen weltweit. Der globale «Kampf», wenn man so sagen will, ist der Clash zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung, kolonialer Macht und authentischer Kultur, Imperium und Gemeinschaft, Angst und Vertrauen. Wir können das alte System nur überwinden, wenn wir neue Systeme entwickeln, die komplexer sind und sowohl menschliche als auch ökologische Bedürfnisse besser erfüllen.

Wir sehen immer wieder mutige Anführer, Präsidenten, Bewegungen – die aber meistens wieder verschluckt werden. Denken wir einmal an die verschiedenen linken Regierungen in Südamerika. Was für Eigenschaften und Qualitäten brauchen sie, damit sie sich wirklich durchsetzen und etwas Neues kreieren?

Martin: Systemische Veränderung auf Regierungsebene zu bewirken, halte ich für extrem schwierig. Denn bestehende staatliche Strukturen – besonders in den Ländern des globalen Südens – sind in einer Weise von neokolonialen, kapitalistischen Kräften abhängig, dass man denen kaum entkommen kann.

Nehmen wir beispielsweise Bolivien: Von 2006 bis 2019 regierte dort der erste indigene Präsident Evo Morales. Er verankerte die Rechte der Mutter Erde in der Verfassung, musste aber weiterhin die natürlichen Rohstoffe des Landes auf dem Weltmarkt verkaufen, um seine Staatskasse flüssig zu halten und soziale Programme bezahlen zu können. Er versuchte, die Verträge mit multinationalen Konzernen zu kündigen. Aber die drohenden Strafzahlungen hätten Bolivien zum finanziellen Bankrott geführt. Schliesslich wurde er in einem Staatsstreich der Macht enthoben, die neue Regierung hat dann Elon Musk und Bill Gates die Rechte für die reichen Lithium-Vorkommen verkauft.

Ich glaube, dass echte und nachhaltige systemische Veränderungen von der Basis ausgehen, d.h. im Aufbau von dezentralen, bioregionalen, autarken Systemen. Diese Systeme werden ermöglicht durch Wasser-Retetionslandschaften und Renaturierung, regenerative Landwirtschaft, biologische Samenbanken, erneuerbare dezentrale Energiesysteme und Schenkönomien. Je mehr solche Systeme real entwickelt werden, umso mehr haben progressive Bewegungen eine Basis für politische Veränderung. Sie können aber auch mithelfen, diese zu entwickeln. Ohne diese Grundlage sind sie den imperialistischen Mächten relativ hilflos aufgeliefert.

Der äussere Systemwechsel braucht ja auch einen inneren Systemwechsel – was will/muss im Inneren heilen oder sich ändern, damit wir fähig sind zum Systemwechsel?

Martin: Wie der Ökoanarchist Murray Bookchin sagte, war kein Machtsystem so erfolgreich in der Unterwanderung der Zwischenmenschlichkeit wie der Kapitalismus. Das System könnte sich äusserlich nicht aufrechterhalten, wenn es seine Werte von Konkurrenz und Kontrolle nicht in uns selbst verankert hätte. Oder nehmen wir das System der weissen Vorherrschaft. Es beruht auf – meist unbewussten – Gedanken der Überlegenheit und Vormachtstellung weisser Menschen und ihrem Anspruch auf Privilegien und soziale Kontrolle. Solche Gedanken verinnerlichen eigentlich fast alle weissen Menschen, die in westlichen oder kolonialen Gesellschaften aufwachsen, und geben diese folglich weiter. Schwarze, Indigene und Menschen of Color erleben die Macht weisser Sozialisierung tagtäglich durch andauernde Aggressionen und Diskriminierungen, die meistens sehr vorhersehbaren Mustern folgen. Dadurch erzeugt sich das System in der zwischenmenschlichen Interaktion immer wieder neu, es braucht wenig staatliche Macht.

Weisse Menschen sind aber meistens vollkommen ahnungslos, was die Folgen ihrer Handlungen angeht, und reagieren schockiert und verletzt, wenn sie darauf angesprochen werden. Das liegt daran, dass die antrainierten Gedanken von Überlegenheit eine innere Erfahrung von Unsicherheit, Machtlosigkeit und Angst kompensieren.

Mit anderen Worten: Unterdrückerische Systeme wie weisse Vorherrschaft und Kapitalismus berufen auf dem Trauma, welches Menschen in Extremsituationen wie Krieg und Vertreibung oder auch in «ganz normalen» Familien und Schulenerfahren. Trauma ist die Erfahrung von etwas, was unser seelisch-körperliches System überwältigt. Wir lernen dann instinktiv, uns vor der Wiederkehr dieser Erfahrung zu schützen. Wir leben unter einer dauernden, irrationalen Drohung von Gefahr und brauchen bestimmte Bedingungen, um uns sicher zu fühlen.

Das Trauma wird dann zu einer gesellschaftlichen Kraft, wenn es sich mit Glaubenssätzen und Weltanschauungen verbindet, die bestehende Machtverhältnisse untermauern. Um den Systemwechsel bewirken zu können, müssen wir Bewusstsein über die verschiedenen Strukturen entwickeln, durch die wir das System in uns neu erzeugen. Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit den Glaubenssätzen, die an in unserer Sozialisierung verinnerlicht wurden, und gleichzeitig eine Heilungsarbeit an den Traumata, durch die wir an diesen Gedanken festhalten. Und ich glaube für all das braucht es andere Formen des Zusammenlebens, durch die wir uns wieder in Vertrauen und Wahrheit begegnen können.

 

——————————————————–

What is System Change? Pathways to Post Capitalism.
Onlinekurs (englisch) auf Spendenbasis.
Acht Webinare von 2.-12. Februar.
Anmeldeschluss ist bereits am kommenden Montag, 31.1.23.
Der Aktivist und Autor Martin Winiecki wird einen geistigen Rahmen legen, der klare Strukturanalyse mit einem anteilnehmenden Verständnis menschlichen Verhaltens verbindet und sich in einem nach-materialistischen und lebenszentrierten Paradigma verankert. Sein Wissen stützt sich auf seine Ausbildung in Tamera, seine Erfahrungen mit Frontline-Gemeinschaften, Ältesten und Visionären in aller Welt sowie auf das Studium verschiedener Denkrichtungen, unter anderem: Tiefenökologie, kritische Theorie, Anarchismus und Systemtheorie.

Mit A’ida Shibli («Re-indigenizing ourselves»), Miki Kashtan («Mobilizing towards vision»), Sabine Lichtenfels («Community-building, erotic healing and spirituality») und Vanessa Machado de Oliveira («Hospicing modernity»).

Mehr erfahren und anmelden hier


';