Terra Nova

Friedensarbeit im Alltag

Tagebuch einer schwankenden Idealistin, Teil 2

„Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen“, schrieb Etty Hillesum in einem Zwischenlager während des zweiten Weltkriegs. Doch was bedeutet es, in uns selbst die Güte zu erobern? Wie geht das und woran erkennen wir, ob es etwas bringt?

Elisa Gratias sieht sich als Friedensarbeiterin im Alltag. Wir sind umgeben von Menschen. Und doch scheint es, als lebten wir alle in verschiedenen Welten, wenn auch unsere Körper durch dieselben Straßen laufen. Was geht in all den anderen vor? Das wird sie in den meisten Fällen niemals erfahren. Dafür teilt sie, was in ihr vorgeht, und beschreibt, wie sie ihre innere Friedensarbeit inmitten der Konsumgesellschaft gestaltet.

Bild: Foto-Rabe

Dirk

Aus dem offenen Fenster höre ich vom Schreibtisch aus die fröhliche Runde unten auf der Terrasse. Joana feiert ihren 34. Geburtstag und dafür reisten fünf Männer Mitte Fünfzig an. Sie kennen meine Mitbewohnerinnen seit zehn Jahren und kommen jedes Jahr nach Mallorca, um mit ihnen segeln zu gehen. Die Frauen sind die Skipper.

Endlich habe ich meine Arbeit geschafft, klappe den Laptop zu und geselle mich zu ihnen. Ich wohne seit einem Jahr mit Antje und ihrer Tochter Joana zusammen, ihre Freunde lernte ich erst gestern kennen. Auf einmal so viele tatsächlich allesamt große Männer im Haus. Ich setze mich etwas schüchtern zu ihnen.

Sie beziehen mich schnell ins Gespräch ein, stellen Fragen und beantworten meine. Erzählen mir Anekdoten aus ihrer jahrzehntelangen Männerfreundschaft und von den Segelabenteuern mit meinen Freundinnen. Ich genieße die fröhliche Leichtigkeit.

„Die Gesetze des Glücks und der Freude verstehen lernen: Das sind wichtige Beiträge zur Entstehung einer neuen Kultur und eines neuen Friedens. (…) Heiterkeit ist eine Öffnung, durch die viel Neues in dein Leben hineinströmen kann“ (Sabine Lichtenfels – „Quellen der Liebe und des Friedens“).

Meine Denkgewohnheiten lassen Leichtigkeit selten zu. Ich bin beinahe süchtig nach Tiefgründigkeit und Schwermut. Und so dauert es auch nicht lange, bis ich mit meinem Sitznachbarn Dirk in einem Zweiergespräch über den Konflikt vieler „Normalbürger“ mit den Klimaaktivisten lande. Gespräche zu den schweren Themen machen mir Freude. Ich will lernen und verstehen, wieso Menschen nicht zueinander finden.

Also lausche ich Dirk, der in einem großen Unternehmen im Technikbereich in der Human-Resources-Abteilung arbeitet und Vater von zwei Kindern ist. Er erzählt mir von seiner Sorge um den „Industriestandort Deutschland“. In meiner spirituellen Friedensarbeiterwelt klingt das Wort wie aus einer anderen Zeit und völlig überholt. Ich unterbreche ihn und springe direkt zum Thema Wohlstand und der Tatsache, dass der uns nun auch nicht glücklich macht, während wir dafür die Natur zerstören.

Dirk spricht vom Waldgebiet, in dem er wohnt, das aufgrund der Trockenheit immer weiter abgeholzt wird. Ich erzähle von der regenerierenden Kraft von Regenwasserauffangstrukturen und dazu notwendiger Aufforstung, was er spannend findet. Dann landen wir wieder bei den Klimaaktivisten und Dirk sagt, dass er sie nicht verstehen kann. Er findet die jüngere Generation undankbar. Ich grätsche wieder hinein und will ihm erklären, dass es auch ungerecht ist, die jungen Leute zu verurteilen, anstatt ihnen mal wirklich zuzuhören, denn schließlich zerstört der „Industriestandort Deutschland“ tatsächlich die Natur und somit die Lebensgrundlage für sich selbst und für andere.

Nun unterbricht Dirk mich und sagt: „Elisa, so wirst du mich nicht überzeugen. Du sprichst von Zuhören und bringst selbst immer nur neue Argumente ein, anstatt mich reden zu lassen.“

Stimmt. Ich atme kurz durch, lasse seine Kritik sacken und höre zu:

„Wenn die Wirtschaft in Deutschland den Bach runtergeht, verlieren viele Menschen ihre Arbeit. Die Leute haben Angst. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und habe mir mein heutiges Einkommen hart erarbeitet, mich immer weitergebildet. Ich bin für 5.000 Ingenieure verantwortlich. Und dann kommen meine Kinder, die diesen Wohlstand als selbstverständlich hinnehmen, auf nichts davon verzichten wollen, weder aufs Reisen noch aufs Smartphone, und machen uns, den Älteren, auch noch Vorwürfe, wir würden die Erde zerstören, hätten alles falsch gemacht und sollen uns ändern.“

Ich denke an meine Eltern und mich. Ich hatte ihnen vorgehalten, dass wir nie über Gefühle gesprochen haben und ich mich innerlich so leer fühlte. Was bringt mir all der Wohlstand, wenn ich trotzdem unglücklich bin oder gar nichts fühle?

Natürlich tut das den Älteren weh. All ihre Mühe und die Opfer, die sie gebracht haben, scheinen auf einmal umsonst. Dank Dirk verstehe ich nun auch all die Menschen besser, die sich über Klima- oder Friedensaktivisten empören statt über Umweltzerstörung und Waffenlieferungen. Die Angst.

Eine Lösung bieten beide Standpunkte nicht. Es ist keine Option, aus Angst vor Veränderung und Armut so weiterzumachen wie in den letzten Jahrzehnten. Menschen werden Arbeitsplätze verlieren. Die Aktivistinnen wiederum ignorieren die Sorgen und Bedrohungen der Betroffenen und wollen ihnen ihre Weltanschauung aufdrängen, ohne bei sich selbst zu schauen.

„Der wirkliche Friede beginnt immer im Inneren. (…) Hier liegt der große Irrtum und Wahnsinn so vieler Friedenskämpfer, die diese Tatsache ignorieren möchten. Sie suchen einen äußeren Frieden, ohne etwas über die inneren Zusammenhänge zu verstehen. Ihr Kampf für den Frieden ist eine Flucht vor sich selbst. Wie viele Kriege und Zerstörungen sind aus dem Wahnsinn fanatischer Friedenskämpfe entstanden. Friede kann nicht dadurch entstehen, dass man eine Moral oder Weltanschauung anderen aufzuzwängen versucht“ (Sabine Lichtenfels – „Quellen der Liebe und des Friedens“).

Ich weiß nicht, wie die verschiedenen „Lager“ zusammenkommen können. Ich sehe nur, dass wieder einmal das Schattenprinzip stimmt: Wenn uns etwas triggert, hat es etwas mit uns selbst zu tun. Umwelt- und auch Friedensaktivisten sind von Gleichgültigen und Veränderungsunwilligen getriggert und umgekehrt. Sie alle flüchten mit ihrer Lebensweise vor sich selbst in die Ablenkung – die einen in die Arbeit und Empörung über Politik und Aktivisten, die anderen in ihren Aktivismus und die Empörung über Politik und Gleichgültige. Am Ende haben sie alle einfach Angst – Angst vor Armut, Angst vor Naturkatastrophen, Angst vor einem sinnentleerten Dasein, Angst vor dem Tod … Angst vor dem nicht gelebten Leben?

Wenn mich bei ihnen triggert, dass sie einander nicht zuhören, dann zeigt es mir, dass auch ich weiter üben darf, immer wieder innezuhalten und bei mir selbst zu schauen. Ich kann Dirks Kritik annehmen. Seine Erzählung von den Ängsten der Menschen um ihren Arbeitsplatz und das Wissen um die innere Leere aufgrund mangelnder Verbindung zum Leben in so vielen Menschen lösen Anteilnahme in mir aus.

Es ist, was es ist. Die Welt ist komplex. Mein Verstand ist regelmäßig überfordert von meiner Suche nach neuen Wegen. Genau deshalb revolutionierte das spirituelle Training im Alltag mein Leben. Ich fühle mich nicht mehr (ständig) erschlagen von all dem Leid, das ich in der Welt bei fast allen Wesen beobachte, sondern kultiviere „das Glück der Geborgenheit in etwas Größerem“, das mir Schritt für Schritt meinen Weg als Friedensarbeiterin weist und mich zugleich mit einer nie gekannten Lebensfreude erfüllt. Rechthabenwollen wird zunächst zu Ratlosigkeit und verwandelt sich dann in Annahme und Anteilnahme.

„Wenn du deine Vorstellungen über das, was zu sein habe, zum Schweigen bringst, dann kann die Gegenwärtigkeit für das, was ist, beginnen“ (Sabine Lichtenfels – „Quellen der Liebe und des Friedens“).

Joana unterbricht uns. Sie fände es schön, wenn wir wieder mit ihr und den anderen feiern. Ich nehme ihre Einladung dankbar an. Sie hilft mir, gerade noch abzuspringen, bevor ich mich wieder mit den Problemen der Welt vom eigentlichen Leben vor meiner Nase ablenken lasse. Es ist ein Tanz zwischen verschiedenen Ebenen des Lebens und eine Kunst, jeder von ihnen Zeit zu widmen. Nur um die Probleme der Welt zu kreisen, frustriert. Nur die eigene Lebensrealität vor der Nase wahrzunehmen, macht gleichgültig.

„Ihr werdet die Welt nicht mehr verändern wollen, indem ihr andere bezeugen und bekehren wollt. Ihr verändert sie durch Selbstveränderung, durch die Kraft des Lebens selbst und durch die Anteilnahme, die daraus erwächst“ (Sabine Lichtenfels – „Quellen der Liebe und des Friedens“).

Joana dreht die Musik auf. Ich bin überrascht, dass fast alle ihrer Aufforderung zu tanzen folgen. Die Männer lernen von uns Merengue-Schritte und bringen uns Foxtrott bei. Wir tanzen barfuß unterm Sternenhimmel bis in die späte Nacht hinein. Ich genieße die Unbeschwertheit.

„Schwierigkeiten werden durch Leichtigkeit überwunden“ (Östliches Sprichwort).

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